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Belebung eines Kieler ViertelsKunst in der ausgeräumten Filiale

Draußen wird viel getrunken, drinnen gibt es Kunst: In einem früheren Schlecker-Markt in Kiel Gaarden werden seit drei Jahren zeitgenössische Arbeiten ausgestellt.

Fundstücke aus Norwegen vor Gaardener Straßenszenerie. die Bodenarbeit „Kunde von draußen“ von Lena Kaapke Foto: Frank Keil

KIEL taz | „Sach’ mal, was ist denn das hier für ein Quatsch?“ Es kann vorkommen, dass die Künstlerin oder der Künstler, der gerade Aufsicht hat, überraschend Besuch bekommt: Die Tür öffnet sich, jemand herein und fragt. Will wissen, was das sein soll, was da an den Wänden hängt, auf einem Sockel steht oder auf einem Monitor zu sehen ist – und ob man ihn, den überraschenden Besucher, eigentlich verarschen will. Dann sollte man etwas sagen können, seine Kunst erklären, einigermaßen sattelfest. Und das möglichst auch noch so, dass man das Gesagte auch versteht.

„Die Niedrigschwelligkeit ist bei uns sehr hoch“, sagt Jonas Lindner, 1. Vorsitzender des Vereins „Künstler 34 in Kiel-Gaarden“, und muss erst mal lachen. Wenn Kurator Detlef Schlagheck dann von der „Szene“ spricht, meint er damit nicht wie üblich die Kunstszene, sondern eine ortsansässige Gemeinschaft von zumindest zeitweise Verlorenen; Menschen, denen es sichtbar an Geld fehlt und die sich schon morgens an einer Flasche Bier festhalten. „Ganz falsch wäre es gewesen, man wäre hier wie ein Ufo gelandet, um Kunst zu zeigen“, sagt Schlagheck. „Man muss sich für die Leute interessieren, man muss hier agieren wollen.“ Er weist mit einer Armbewegung nach draußen: „Die Leute waren zuerst da, es ist zuerst ihr Platz.“

Auffällig viele Spielhallen

Seit 2013 sind aber auch die Künstler hier, Elisabethstraße 68, direkt am Vinetaplatz, Kiel-Gaarden. Man könnte mühelos bedrückende Zahlen herunterrattern: die der Arbeitslosen, der Hartz-IV-Bezieher, der Aufstocker. Die Zahl der Schulabbrecher auch und die hohe Zahl derjenigen, die hier regelmäßig nicht zur Wahl gehen, egal ob Kommunal-, Land- oder Bundestagswahl. Man könnte an den Tatort „Borowski und die Kinder von Gaarden“ aus dem vergangenen Jahr erinnern. Da bekam die Sonntagabendgesellschaft ein Szenario aus Gewalt und Teilnahmslosigkeit geboten, in dem schon die Heranwachsenden des Viertels in den Abgrund gerissen würden.

Man kann aber auch einfach ein paar Schritte gehen und sich umschauen. Dann wird man einen Stadtteil erleben, mit Ecken und Kanten, geprägt von charmanter Altbaustruktur, also noch nicht seelenlos durchsaniert. Zugleich könnte man zwischen den kleinen Geschäften auffällig viele Spielhallen bemerken, mit den üblichen zugeklebten Scheiben. Und dann stolpert man vielleicht über den Aufsteller des örtlichen Beerdigungsinstituts – mit dem Hinweis „Sterbegeldversicherung geschützt vor den Sozialbehörden“. Wenn auf dem Vinetaplatz Wochenmarkt ist, sitzen daneben Frauen auf dem bloßen Boden, kaum noch brauchbaren Trödel vor sich – vielleicht greift ja doch irgendjemand zu. Jeder Euro zählt.

Unübersehbar: Am Beginn der Elisabethstraße, Ecke Preetzer Straße, hat die offene Drogenszene ihr Zuhause, links und rechts die dazugehörigen Dienstleister: Arztpraxen mit Suchtschwerpunkt und mobile Hilfsdienste. „Einmal im Jahr rückt die Polizei an“, erzählt Lindner, „dann ist Razzia, dann werden jede Menge Platzverweise erteilt, die werden in den darauffolgenden Tagen auch überprüft und durchgesetzt, aber dann beruhigt sich wieder alles und es geht weiter wie bisher – bis zum nächsten Jahr.“

„Das Schöne an dem Viertel ist, dass das Leben auf der Straße stattfindet“, sagt Schlagheck. „Wobei ich den Sozialromantikern sagen muss, dass es hier keine bunte, harmonische Multikultigesellschaft gibt. Die verschiedenen Gruppen leben weitgehend nebeneinander her.“ Beide kennen sich aus, sie wohnen in Gaarden und das nicht erst seit eben. Beide sagen, man gehe „hier miteinander um, wie normale Menschen miteinander umgehen sollten“.

Solchen normalen Menschen bieten sie seit inzwischen drei Jahren zeitgenössische Kunst an: in einem ehemaligen Schlecker-Markt. Den Raum strukturieren mehrere Säulen, was Schlagheck ihn immer wieder an eine Kirche erinnert, sagt er. Die Drogerie-Filiale stand erst mal ein Jahr lang leer, nachdem sich Anfang 2012 das Imperium des Anton Schlecker in Luft und Schulden auflöste und die sogenannten Schlecker-Frauen, also die größtenteils weibliche Belegschaft, einen kurzen Frühling der Aufmerksamkeit erlebten. Ein Jahr lang wurde versucht einen neuen Mieter zu finden, der irgend etwas anböte, das die Leute hier brauchen – und für das sie sogar zahlen würden. Es fand sich keiner.

Und dann? Man überlegt sich was mit Kunst, fragt herum, findet schließlich wen, der gerade nicht klassisch betriebswirtschaftlich denkt, dafür wiederum andere Leute kennt, die auch so ticken. „Ich war am Anfang eher skeptisch, als mich Jonas ansprach“, erzählt Schlagheck, der nicht nur Kurator ist, sondern auch selbst Künstler, Bildhauer. „Dann haben wir ganz aktionistisch losgelegt und es folgte Ausstellung auf Ausstellung.“ Ein wenig erleichtert es den beiden das Engagement, dass die Miete recht günstig ausfällt und die örtliche Muthesisus-Kunsthochschule etwas zuschießt. Vor allem aber haben sie es gegen jeden Trend geschafft, bei der Lokalpolitik eine dauerhafte, institutionelle Förderung durchzusetzen. „Man darf jetzt ruhig mal die SPD loben“, sagt Lindner.

Jedenfalls: Die Kunst kam nach Gaarden und sie blieb. Wobei eines ganz wichtig ist: die Nicht-Umarmungsstrategie der Macher. „Wir sind keine Sozialarbeiter oder Pädagogen“, sagt Schlagheck, „sondern wir präsentieren als ausstellende Künstler und Kuratoren Kunst – mit dem Wunsch, dass die was mit dem Stadtteil zu tun hat.“ Genau genommen hofft man darauf, denn vorschreiben tut man das den Künstlern natürlich nicht. Und wenn, dann gehe das am besten mit Ausstellungen mit „Laborcharakter“: Wo also nicht einfach Bilder oder Skulpturen ausgepackt und ausgestellt würden, sondern die Beteiligten sich erst mal umsähen, wo sie hier eigentlich sind.

Ein Beispiel? Die Arbeit von Vladimir Seleznyov aus Jekaterinburg, Mitglied der deutsch-russischen Künstlergruppe „Quarantäne“, zu der auch Schlagheck selbst gehört: Der Russe hat kleine, postkartengroße Porträtzeichnungen angefertigt, Porträts von Künstlerkollegen, aber auch von Gaardener Anwohnern, wie sie draußen vor dem Laden stehen, und der Tag verstreicht. Gemalt hat er sie auf dünnem Papier, das dann auf die Fensterscheiben angebracht wird, sichtbar von drinnen und von draußen: da sei bald die glasklare Trennung zwischen vordergründig schaffenden Künstlern und angeblich müßiggängerischen Anwohnern aufgehoben.

Ob – und wie gut – das klappen würde, habe man nicht vorhersagen können: „Als mir Vladimir die Idee vortrug, meinte ich: ‚Das kannst du vergessen, öffentlich werden wollen die Leute schon mal gar nicht‘“, erzählt Schlagheck. „Aber das Gegenteil war der Fall.“ Bis heute erinnerten sich die Gaardener an diese Arbeit, kämen immer mal wieder auf sie zu sprechen: „Da sind sie mal ernst genommen worden.“

Leistungsschau des Landes

Aktuell präsentiert sich in der Elisabethstraße die „Regionale“. Das ist nicht irgendeine Gemeinschaftsausstellung, es ist die wiederkehrende Schau, mit der das Land Schleswig-Holstein seine Stipendiaten der Sparten Literatur, Musik, Theater und, vor allem, bildenden Kunst vorstellt. Eine echte Leistungsschau also; mit Benjamin Mastaglio und Constanze Vogt sind zwei dabei, die von der Stadt Kiel schon mit dem Gottfried-Brockmann-Preis ausgezeichnet wurden. Die lokale Comicgröße Gregor Hinz ist vertreten, und der Lyriker Arne Rautenberg zeigt feinsinnige Collagen. Das diesjährige Motto: „For You for Ort“. Und spätestens jetzt finden also auch die klassischen Galeriegänger den Weg nach Gaarden.

Und umgekehrt? Hat die zeitgenössische Kunst neue Fans in Gaarden gefunden? Gelingt der Dialog? Schlagheck zögert, wie er das jetzt abschließend beschreiben soll. Es gebe da diese lästige Vokabel von der „Kommunikation auf Augenhöhe“, aber er würde das lieber so sagen: „Wir sind für die Leute hier nicht mehr die spinnerten Künstler, die man vergessen kann. Sondern die spinnerten Künstler, die man immer mehr versteht.“

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1 Kommentar

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  • Mit Gaarden verbinde ich auch ein "Aufatmen können", sich nicht verstellen müssen...

    Kunst in Gaarden begrüße ich, aber ich wünschte auch, es würde nicht immer instrumentalisiert.

    Es gibt dort schon viel soziales Engagement, es fehlt halt an den Finanzen und des politischen Willens die Leute vor Ort zu unterstützen.

    Es müssen immer Leute von Außen sein, die den Gaardenern sagen wos lang geht....