Putsch-Historie der Türkei: Wenn die Panzer rollen
1960, 1971, 1980: Politische Umstürze durch das Militär haben in der Türkei eine gewisse Tradition. Die Streitkräfte verstehen sich als Hüter des Kemalismus.
Kemalismus, das ist vor allem das Bekenntnis zur Trennung von Religion und Staat, gepaart mit einem starken Nationalismus, der geschichtlich auch die teils unerbittliche Grundlage für die Unterdrückung von Minderheiten darstellte, wie etwa der Aleviten oder der kurdischen Bevölkerung im Südosten des Landes, die bis heute um ihre Eigenständigkeit kämpft – die aber im Kemalismus nur eine Antwort erhielt: Dass es seit Atatürk innerhalb der Landesgrenzen nur noch Türken gab und zu geben habe. Es ist diese Ideologie, die bis heute als schärfste Kontrastfolie für die gesellschaftlichen Konflikte in der Türkei her hielt. Und oft war es das Militär, das allzu große Abweichungen von dieser Staatsdoktrin verhinderte.
Auch wenn die Details des noch laufenden Putschversuches nicht ausgeleuchtet sind: Dieser Hintergrund hilft auch, den aktuellen Konflikt zu verstehen. Denn als vermeintlicher Erbwalter des in weiten Teilen der Bevölkerung verehrten Atatürk, hat sich das Militär auch in der Vergangenheit immer wieder als eine Art überkonstitutionellen Garanten des Gründungsmythos der Türkei in Szene gesetzt – und diese Position teils auch mit Waffengewalt behauptet.
1960, 1971, 1980: Fast schon in regelmäßigen Abständen intervenierte das Militär, stets vor dem Hintergrund massiver gesellschaftlicher Konflikte, in die inneren politischen Angelegenheiten des Landes. Während der Militärdiktatur nach dem Staatsstreich von 1980 agierte die Junta äußerst brutal.
Überraschend, aber nicht ohne Vorgeschichte
Das Militär putschte nicht nur, wesentlich öfter spielte es eine Rolle bei der Neuordnung des Landes und seiner staatlichen Institutionen, etwa im Februar 1997, als es die türkische Regierung in einem Memorandum zu einer Rückbesinnung auf kemalistische Prinzipien drängte. Die Generäle hatten der Regierung 18 Forderungen präsentiert und einen „ultimativen Realisierungsbefehl“ ausgesprochen. Darin ging es etwa darum, den Einfluss der Islam-Schulen sowie den Einfluss des Islam auf staatliche Institutionen und die türkische Gesellschaft zu schmälern. In der Folge, vier Monate später, zerbrach die damalige Regierung unter Necmettin Erbakan.
Dass es heute, 2016, noch einmal zu einer Putschsituation kommen könnte, hatte zwar niemand erwartet, könnte aber zumindest vor diesem Hintergrund gedeutet werden.
Denn Recep Tayyip Erdoğan war mit Beginn seiner Regierungszeit im Jahr 2003 ein erklärter Gegenkandidat zum Modell des teils radikalen Kemalismus. Dieser hatte zu stark nationalistischen Formen gefunden, wurde von autoritären Zirkeln verteidigt und war zur ideologischen Klammer eines „tiefen Staates“ geworden. „Tiefer Staat“, der Begriff meint Geheimbünde und Verschwörer innerhalb von Polizei und Justiz, Geheimdiensten und Militär. Immer wieder gab es aus diesen Kreisen heraus gezielte Angriffe und auch Mordanschläge auf politisch Andersdenkende.
Machterhalt vor Liberalismus
Dass Erdoğan mit Beginn seiner Regierungszeit dagegen vorgehen wollte, wurde deshalb anfangs auch und gerade unter den Liberalen in Westeuropa als Zeichen für eine mögliche Öffnung der Türkei gesehen. Ihr Bild war das eines Landes, in dem, aus der muslimischen Mehrheitsgesellschaft heraus eine Demokratisierung der staatlichen Institutionen betrieben werden konnte.
Erdoğan legte tatsächlich Hand an die staatlichen Institutionen an, reformierte zunächst dezent, dann aber in zunehmendem Maße immer autoritärer. Zum Machterhalt wechselte er aus dem Amt des Ministerpräsidenten 2014 ins Präsidentenamt. Inzwischen geht er offen und unverhohlen gegen Andersdenkende vor, lässt Zeitungsredaktionen stürmen, deren Chefredaktionen neu besetzen und überzieht Journalisten sowie politische Gegner mit Repression und Klagen.
Einerseits hat Erdoğan sich mit diesem Autoritarismus in den letzten Jahren international eine souveräne Position erarbeitet. Er genoss in Teilen der zunehmend gespaltenen türkischen Bevölkerung bis zuletzt noch großen Rückhalt. Andererseits werden sowohl die inneren wie auch die äußeren Spannungen, denen die Türkei ausgesetzt ist, immer offensichtlicher.
Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Abschuss eines russischen Militärflugzeugs. Und nun zuletzt der absurde Streit zwischen den Nato-Verbündeten Türkei und Deutschland, ob deutsche Politiker in der Türkei stationierte Truppen besuchen dürfen. Eine politische Lächerlichkeit der Sonderklasse, die allen Ernstes zur Belastung deutsch-türkischer Regierungsgespräche wurde.
Gülen als Sündenbock
Welche politischen Flügel genau innerhalb des Militärs diesen Putschversuch führten, das lässt sich noch nicht sagen. Denn anders als noch zum Amtsantritt Erdoğans, ist auch das Militär inzwischen wesentlich heterogener aufgestellt.
Erdoğan selbst erklärt seinen einstigen Verbündeten und heutigen Erzfeind Fethullah Gülen zum Beteiligten an dem Putschversuch. Der 75 Jahre alte Gülen ist ein in den USA im Exil lebender muslimischer Prediger, der mit seiner einflussreichen und sektenähnlichen Bewegung seit Jahren die Ablösung Erdoğans betreibt und anstrebt. Die Gülen-Bewegung Hizmet wurde in der Türkei zur Terrororganisation erklärt, viele ihrer Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen. Erdoğan bezichtigt Gülen schon lange, ihn mit Gefolgsleuten aus Justiz und Militär stürzen zu wollen. Und natürlich klagt er jetzt beide an.
Gülen und kemalistische Militärs – was beide Strömungen eint, ist der Hass auf Erdoğan. Ob und inwiefern die beiden Strömungen allerdings gemeinschaftlich tätig wurden, dies ist zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation. Gesichert scheint, dass nur Teile des Militärs den Putschversuch unternommen haben – und diese auch auf Widerstand in den eigenen Reihen gestoßen waren.
Der amtierende Generalstabschef Ümit Dündar sagte in einer am Samstag vom TV-Sender CNN Türk übertragenen Erklärung, die Streitkräfte seien entschlossen, Mitglieder einer „Parallel-Struktur“ zu entfernen. So werden Anhänger der Gülen-Bewegung bezeichnet. Erdoğan selbst hat eine „Säuberung“ der Armee angekündigt: „Dieser Aufstand ist für uns eine Gabe Gottes, denn er liefert uns den Grund, unsere Armee zu säubern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen