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Kommentar Harting tanzt bei OlympiaVerschont uns, ihr Tugendwächter!

Jan Feddersen
Kommentar von Jan Feddersen

Zur Nationalhymne lässt sich schwer tanzen. Christoph Harting versucht es dennoch. Respektlos? Nein, Hymnen werden ohnehin überschätzt.

Danced eben gerne: Diskuswerfer Christoph Harting Foto: dpa

W er Gold bei Olympischen Spielen gewinnt, darf sich so freuen, wie er oder sie will. Christoph Harting hat den Diskuswettbewerb gewonnen und zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ auf der obersten Stufe des Medaillenpodiums die Arme vor dem Bauch verschränkt, gepfiffen, getänzelt und grimassiert.

Er hat hernach Interviews verweigert – und dies mit der Begründung, eher ein in sich gekehrter Typ zu sein, nicht wie sein Bruder Robert ein Fachmann für Selbstvermarktung. Die rituelle Verleihung der Goldmedaille eher lax zu absolvieren ist im Hinblick auf die Bedeutung Olympischer Spiele natürlich der höchste Akt der Selbstinszenierung. Damit wird man nicht unbekannt!

Aber letztlich ist es die Angelegenheit des Geehrten allein, wie er sich bei der Übergabe der wichtigsten Trophäe in seinem Sport verhält: seine Sache, nicht die nationaler Tugendwächter, für die eine Performance der Andacht wichtig ist – vielleicht noch gekrönt durch Tränen. Wer sich über die Vorstellung des Berliners aufregt – und das taten in den sozialen Netzwerken sehr viele –, verkennt, dass Spitzensport in demokratisch-liberalen Ländern keine Domäne patriotischer Aufschäumung sein darf.

In Rio de Janeiro sind es immer Sport­ler*innen aus antidemokratischen Ländern, die mit jeder Medaillenleistung an einem nationalen Epos mitzuschreiben haben, nicht nur russische Athlet*innen belegen dies gerade eindrücklich.

Wenn Christoph Harting sagt, man könne zur deutschen Nationalhymne nur schwer tanzen, ist das ein vorzüglicher Spruch. Stimmt ja auch: Das Lied hat wirklich diese gewisse Spur Pathos zu viel, ein übermelancholisches Moment der tranigen Beseeltheitspflicht. Kann man übrigens auch anders sehen, der Diskussieger von Rio aber empfindet es so. Na und?

Ob er mit den Bildern in 20 oder 30 Jahren auch noch leben kann, ist eine andere Frage. Wird er dann das Naheliegende erkennen: dass er mit dieser Performance seinem Bruder Robert, Goldmedaillist von London, nur eins auswischen wollte? Dass er nach dem Triumph also vor aller Weltöffentlichkeit eine Familiensache austrug? Einerlei: Hymnen werden ohnehin überschätzt – und Christoph Harting, der vermeintlich Introvertierte, hat sich ins Bildergedächtnis dieser Zeit eingeschrieben. Über welchen der über 300 Olympiasieger von Rio wird man das in mittlerer Zukunft schon sagen ­können?

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Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
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21 Kommentare

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  • 2G
    2730 (Profil gelöscht)

    Jan Feddersen, Du bist ein Kommentargott!

  • Ich und Nationalhymnen = inkompatibel.

    • @nzuli sana:

      du kannst ja das 'ich' abschaffen

  • Ich habe 207cm Hilflosigkeit gesehen. mehr nicht. Einfach überfordert. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er geheult. Aber das lies wohl sein Inneres nicht zu. Schaut drüber weg und erinnert euch an Situationen, welche ihr nicht im Griff hattet und wie ihr heute noch rot werdet, wenn ihr dran denkt. Glück gehabt es schauten nicht Millionen zu.

     

    Mich kann kein Tänzchen auf dem Podest beleidigen und ich zahle auch Steuern.

  • 3G
    33523 (Profil gelöscht)

    Manch einer kann sich auch über jeden Mist aufregen,...^^

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Einfach nur zum Fremdschämen, dieser narzisstische Auftritt des Gewinners. Mir ist es vurscht, was er mit oder bei der Hymne macht, aber das anzusehen verursacht mir, aber nur der Teil vor dem Abspielen der Hymne, einen ziemlich ausgeprägten Widerwillen. Ich frage mich, warum der Mann eigentlich seinen Sieg nicht würdig annehmen kann. Wenn irgendeiner von diesen Fußballclowns ein Tor schießst, gestehe ich denen ja noch einen gewissen Überschwang der Gefühle zu. Aber bei olympischen Siegerehrungen mit einen kleinen Abstand zum Geschehen sollte man sich und seinen Narzissmus schon ein wenig unter Kontrolle haben. Dass es nicht so ist, zeugt hingegen von der gesellschaftlichen Akzeptanz solchen Verhaltens. Ist irgendwie wie bei Affen, die sich auf die Brust trommeln.

  • Falsche Überschrift. Hier sind nicht die Tugendhaften spießig am Werk, sondern die Nationalisten, Patridioten und Kleingeister.

     

    Tugend dagegen hat durchaus eine positive Bedeutung.

  • Weil, so schließt er messerscharf, (gar) nicht sein kann, was nicht sein darf – nicht wahr, verehrter Jan Feddersen?

     

    "Wer sich über die Vorstellung des Berliners aufregt, verkennt, dass Spitzensport in demokratisch-liberalen Ländern keine Domäne patriotischer Aufschäumung sein darf", schreiben Sie. Das mag schon sein. Nur: Ist das patriotische Aufschäumen bereits verboten in Deutschland? Wohl eher nicht. Im Gegenteil. Dem Staat (und genau der besitzt nun einmal das Gewaltmonopol in einer Demokratie) ist es vermutlich völlig recht, wenn möglichst vielen Leuten unklar bleibt, was Spitzensportler (oder andere Elite-Mitglieder) so alles dürfen und was nicht. Er selber, schließlich, darf sich ja nicht mehr als Sittenwächter betätigen. Will er auch künftig profitieren von der Leistung der Athleten (zu der er eher wenig beigetragen hat), muss er schon kritisieren lassen. Von Leuten, die ihm sonst am Arsch vorbei gehen. Und die sind blöd genug, das auch zu tun.

     

    Selbstinszenierung allenthalben. Wobei – einem (sehr) unverhofften Olympia-Sieger kann ich durchaus zugute halten, dass er ein wenig von der Rolle ist. Einem geübten Twitter-Nutzer eher nicht.

     

    Merke: Zur deutschen Nationalhymne kann man nur schwer tanzen. Unmöglich ist es aber nicht. Es sieht nur ziemlich albern aus. Ob Christoph Harting also wirklich seinem sonst viel erfolgreicheren Bruder eins ausgewischt hat (wen ginge das was an, wenn es so wäre?), oder ob er sich selbst eine verbraten hat, werden wir sehen. In 20 Jahren oder so. Vielleicht auch früher. Oder nie. Skandale sind sehr kurzlebig derzeit. Auf das "Bildgedächtnis" unserer Zeit würde ich jedenfalls genau so wenig wetten wollen, wie ich "meinem" Staat Ehre machen möchte.

    • @mowgli:

      ok - but bay the way -

       

      Welcher Skandal bitte?!

      Da zeigt einer - daß er den Diskus -

      "Nicht aus Liebe zu Deutschland"

      (Justav Heinemann läßt Grüßen)

      Sondern weil er gewinnen will -

      Durch die Gegend feuert. Punk(t) &

      Daß ihm das auf besonders - doch doch

      Geile Weise gelungen ist!

      EndeGelände

  • Bei Olympia geht es um die Sportler und deren Leistung.

     

    Dass der Innenminister im Stillen eine Erfolgsquote definiert und dass die Staatszugehörgkeit von den Medien zur Propaganda benutzt wird, ist der eigentliche Skandal.

     

    Und wenn der Sportler auf dem Treppchen sich freut, freut es sich eben. Er hat die Medallie gewonnen und nicht ich. Punkt.

    • @LastHope:

      ;)) - bisken mit Raubank&Putzhobel -

      Aber so isset! & karoeinfach;))

      hopefully! & Ab dafür!

  • Was verklärt Ihr den jetzt zum Helden? Der ist doch einfach voll durchgedreht!

     

    Dabei meine ich nicht mal das Verhalten während der Siegerehrung - das könnte ich wie meine Vorredner auch verstehen.

    Aber einem Reporter (dank dessen Presse Herr Harting ja auch gutes Geld verdient) den Handschlag zu verweigern, ist einfach nur peinlich und kindisch. Und dem polnischen Journalisten, der ihn aus Versehen "Robert Harting" nennt (seinen Fehler aber gleich korrigiert) gleich zu sagen, er solle abhauen, ist einfach nur unverschämt.

     

    Und sich dann noch als cooler Outlaw zu inszenieren, passt eigentlich nicht zur Aussage, dass er mit dem ganzen Zirkus nichts anfangen könne. Mit seinem Verhalten provoziert er das ja grad.

    Er kann gerne seine kritische Einstellung ja gerne unter Beweis stellen und z.B. das IOC oder gedopte Sportler angehen. Aber dafür hat dann der Mut doch nicht gereicht!?!

  • Jan Feddersen, kurz und knapp und treffend geschrieben. GUT! Und dein HSV geht in die Religation?

  • 3G
    33641 (Profil gelöscht)

    Die ganze Aufregung über diesen harmlosen Scherz zeigt doch nur, daß sich in der "volksdeutschen" Seele in Wahrheit nichts geändert hat.

  • „Wenn Christoph Harting sagt, man könne zur deutschen Nationalhymne nur schwer tanzen, ist das ein vorzüglicher Spruch“

     

    Allerdings kenne ich, außer der kubanischen, keine andere Nationalhymne, zu der man tanzen könnte, und dazu sind Nationalhymnen auch nicht da. Und das „übermelancholisches Moment der tranigen Beseeltheitspflicht“ findet man z. B. in der russischen Nationalhymne noch viel mehr. Herr Feddersen hätte das ruhig anmerken können.

    Christoph Harting hätte einfach sagen können, er habe doch nur seine demokratischen Rechte gebraucht, und er hätte damit Recht gehabt. Folgen wird es für ihn nicht haben - anderswo wäre seine sportliche Karriere wohl beendet.

    Das mal all jenen ins Stammbuch, die den „Abbau der demokratischen Rechte“ in D. beklagen.

     

    Aber es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Auch die unter anderem aus Steuermitteln finanzierte „Deutsche Sporthilfe“ hat ihm aufs Treppchen geholfen. Also war das eben NICHT „die Angelegenheit des Geehrten allein“. Mithin hat er auch die Steuerzahler veralbert und ist ihnen auf den Schlips getreten!

    • @Pfanni:

      Nee, zur kubanischen möcht ich auch nicht tanzen, kein Salsa, noch Merengue, eher preußisches Straßengetrampel.

    • @Pfanni:

      Mir hat er nicht auf den Schlips getreten, bin auch Steuerzahler.

  • Ist doch klasse, wenn mal jemand sie Eier hat, auf die übliche verlogene Zeremonie zu pfeifen und sein Ding durchzuziehen! Zeugt von Charakter - das, was bei Politiker schon lange nicht mehr haben und auch bei Top-Sportlern eher Seltenheitswer hat! Christoph Harting ist mein Olympia-Held!

  • In der Tat werden Hymnen überschätzt; das haben sie mit Fahnen gemein.

    • @Christian_72:

      Nicht zu vergessen - auch Events -

      Werden überschätzt - &

      Deren Aftermieter - too!

      So - schließt sich - nicht nur der Kreis!