piwik no script img

Gesetzesänderung auf Zwang

Gesundheit Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie sind verfassungswidrig, urteilte das Bundesverfassungsgericht bereits 2011. In Berlin hat man nun das neue Psychisch-Kranken-Gesetz beschlossen – Betroffenen-Vereinigungen geht es nicht weit genug

Fast psychedelisch ins Licht gesetzt: die Psychiatrie im Urbankrankenhaus Foto: Christian Ditsch/version

von Jasmin Sarwoko

Sie kamen mit drei Mann. Zwei pack­ten ihn, hiel­ten ihn still. Der Arzt spritz­te ihm Hal­dol, ein Neu­ro­lep­ti­kum gegen Schi­zo­phre­nie. Dann schnall­ten sie ihn an ein Kran­ken­bett und lie­ßen ihn zwei Tage lang lie­gen – Rein­hard Wojke schau­dert immer noch, wenn er sich an sei­nen ers­ten Psych­ia­trie­auf­ent­halt 1975 zu­rück er­in­nert. Ge­ra­de ein­mal 18 Jahre alt war er da. Die Dia­gno­se: Psy­cho­se. „Das waren noch an­de­re Zei­ten. Da­mals kam alles, was nicht nor­mal war, so­fort in die An­stalt“, sagt der 59-Jäh­ri­ge. Heute sind die recht­li­chen Auf­la­gen für Zwangs­be­hand­lun­gen in der Psych­ia­trie schär­fer, die Kritik von Betroffenenverbänden ist dennoch groß.

Die jüngs­te Än­de­rung des Psy­chisch-Kran­ken-Ge­set­zes (PsychKG) be­schloss das Ber­li­ner Par­la­ment am 9. Juni. Bis dahin war das recht schwam­mig for­mu­liert. In der Pra­xis reich­te die bloße Ein­wei­sung oft als Le­gi­ti­ma­ti­ons­grund­la­ge für Fi­xie­run­gen oder die Ver­ab­rei­chung von Psy­cho­phar­ma­ka aus. Das neue PsychKG recht­fer­tigt Zwangs­be­hand­lun­gen nur bei Selbst- oder Fremd­ge­fähr­dung oder wenn Pa­ti­en­ten nicht dazu in der Lage sind, über die Be­hand­lung zu ent­schei­den. Die Zwangs­be­hand­lung darf al­ler­dings nur als letz­tes Mit­tel die­nen, wenn alle an­de­ren Lö­sun­gen ver­sa­gen. Zudem müs­sen Rich­ter die Maß­nah­me be­wil­li­gen, die Psych­ia­tri­en diese do­ku­men­tie­ren.

An­lass für die Neu­re­ge­lung ist ein Ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, das 2011 Teile der PsychKG in Ba­den-Würt­tem­berg, Rhein­land-Pfalz und Sach­sen für ver­fas­sungs­wid­rig er­klär­te – und damit dazu die Ge­set­ze der rest­li­chen Bun­des­län­der nich­tig mach­te. Dem­nach stel­len Zwangs­be­hand­lun­gen einen schwer­wie­gen­den Ein­griff in das Recht auf kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit und ef­fek­ti­ven Rechts­schutz dar. Das Gericht be­rie­f sich neben dem Grund­ge­setz auch auf die Be­hin­der­ten­rechts­konvention der Ver­ein­ten Na­tio­nen.

Gewaltlose Psychiatrie

Die aktuelle Ge­set­zes­än­de­rung ist eine gute Nach­richt für Rein­hard Wojke und die Ber­li­ner Or­ga­ni­sa­ti­on Psych­ia­trie-Er­fah­re­ner und Psych­ia­trie-Be­trof­fe­ner e. V., deren Mit­be­grün­der er ist. Doch der Vor­stoß geht den Be­trof­fe­nen nicht weit genug. Sie haben teil­wei­se eine lange Kran­ken­ge­schich­te hin­ter sich und kämp­fen für eine kom­plett ge­walt­lo­se Psych­ia­trie. Für sie be­deu­ten Zwangs­maß­nah­men De­mü­ti­gung, Schmerz und einen Ein­griff in ihr Selbst­be­stim­mungs­recht. Oft wür­den Ärzte die Pa­ti­en­ten nicht ernst neh­men, nach dem Motto: Ein­mal krank, immer krank. „Wir müs­sen weg von die­sem Gott-in-Weiß–Ge­dan­ken“, sagt Wojke. Er for­dert em­pa­thi­sche Dee­s­ka­la­ti­ons­maß­nah­men, Ge­sprä­che statt Ge­walt.

Auch die Frak­tio­nen der Grü­nen und Pi­ra­ten im Ab­ge­ord­ne­ten­haus spre­chen sich für eine Ab­schaf­fung der Zwangs­be­hand­lungs­pa­ra­grafen aus. „Wir leh­nen das Ge­setz in die­ser Form ab“, sagt Fabio Rein­hard, Mit­glied im Ge­sund­heits­aus­schuss der Pi­ra­ten-Frak­ti­on. „Die Zwangs­be­hand­lung soll­te nur im äu­ßers­ten Not­fall durch­ge­führt wer­den, doch das Ge­setz ist hier nicht spe­zi­fisch genug.“

Die SPD und CDU lehn­ten sämt­li­che Än­de­rungs­an­trä­ge der Grü­nen und Pi­ra­ten ab. „Es ist wich­tig, die Ein­wil­li­gungs­fä­hig­keit der Per­so­nen wie­der­her­zu­stel­len“, sagte Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) in der Aus­schuss­sit­zung im Mai. Dies sei durch tem­po­rä­re Maß­nah­men über­haupt erst mög­lich.

„Wenn man die Zwangs­be­hand­lung gänz­lich ver­bie­tet, wür­den wir Ärzte in ge­wis­sen Si­tua­tio­nen un­se­re Schutz­pflicht ver­let­zen“, sagt Til­man Stei­nert, Di­rek­tor der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie Weis­senau in Ba­den-Würt­tem­berg. Er forscht seit Jahren zum Thema Zwangsbehandlungen und Gewalt in der Psychiatrie. Es sei stets eine Frage der Ab­wä­gung zwi­schen dem Re­spekt vor der Würde und Selbst­be­stim­mung des Pa­ti­en­ten und der Ver­pflich­tung, zum ge­sund­heit­li­chen Wohle des Kran­ken zu han­deln, so Steinert. In der Dis­kus­si­on gehe es je­doch auch um den Schutz Drit­ter. Denn nicht nur Pa­ti­en­ten hät­ten Er­fah­rung mit trau­ma­ti­schen Er­leb­nis­sen in der Psych­ia­trie. Auch Pfle­ger und An­ge­hö­ri­ge könn­ten in be­las­ten­de oder ge­fähr­li­che Si­tua­tio­nen kom­men, wenn ag­gres­si­ve Pa­ti­en­ten auf sie los­ge­hen. Auch ihre Rech­te gelte es zu schüt­zen.

Den Vor­wurf, dass Psych­ia­ter zu leicht­fer­tig zu Me­di­ka­men­ten und Fi­xie­rung grei­fen, hält Stei­nert für falsch. „Es gibt kei­nen Frei­brief für Zwangs­me­di­ka­ti­on in den ak­tu­el­len deut­schen Ge­set­zen. Das be­le­gen auch die Zah­len. Einer von 200 Psych­ia­trie-Pa­ti­en­ten er­hält Me­di­ka­men­te gegen sei­nen Wil­len.“ Ba­den-Würt­tem­berg führ­te 2014 als ers­tes Bun­des­land ein Re­gis­ter für die Er­fas­sung von Zwangs­maß­nah­men ein. Im Ber­li­ner Ge­setz fin­det sich le­dig­lich eine un­spe­zi­fi­sche Stel­le zur Do­ku­men­ta­ti­ons­pflicht.

Psychiatrie in Berlin

Unterbringung: 2014 wurden rund 2.700 Personen zwangsweise in Berliner Kliniken der psychiatrischen Regionalversorgung untergebracht. Insgesamt gibt es 2.600 Betten für erwachsene psychisch kranke Menschen. Dazu kommen 650 Plätze in psychiatrischen Tageskliniken. Für Kinder und Jugendliche werden gegenwärtig insgesamt 160 Betten und 130 tagesklinische Plätze bereitgestellt.

Krisennummer: Der Berliner Krisendienst berät rund um die Uhr psychisch Kranke und deren Angehörige. Mehr als 60.000-mal pro Jahr wird das Gemeinschaftsangebot freier Träger derzeit in Anspruch genommen. Info unter www.berliner-krisendienst.de (mah)

Kriminell oder krank?

„Fixa­ti­on und Psy­cho­phar­ma­ka ma­chen Kran­ke nicht ge­sund, sie lin­dern höchs­tens die Sym­pto­me“, sagt Wolf­gang Al­bers, Ab­ge­ord­ne­ter der Lin­ken in Berlin und selbst Psych­ia­ter. „Es geht darum, auf recht­li­cher Basis Mög­lich­kei­ten zu schaf­fen, wie man mit Pa­ti­en­ten um­geht, die sich in psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stän­den be­fin­den, zum Bei­spiel wenn sie an­de­re Men­schen at­ta­ckie­ren.“ Grei­fe die Psych­ia­trie hier nicht ein, so wür­den psy­chisch Kran­ke wie Straf­tä­ter nach Po­li­zei­recht be­han­delt und in eine Zelle ge­steckt wer­den – ohne Aus­sicht auf psych­ia­tri­sche Be­hand­lung. Dar­aus folge eine Kri­mi­na­li­sie­rung von Men­schen mit psy­chi­schen Stö­run­gen.

Die Ber­li­ner Be­trof­fe­nen-Ver­ei­ni­gun­gen um Wojke kri­ti­sie­ren auch, dass der Ge­set­zes­ent­wurf zu schnell durch­ge­peitscht wor­den sei – in nur drei Aus­schuss­sit­zun­gen dis­ku­tier­ten die Ab­ge­ord­ne­ten das heik­le Thema. Zudem wür­den Be­trof­fe­ne nicht genug in die The­ra­pie mit­ein­be­zo­gen. Dabei gebe es Mög­lich­kei­ten der In­klu­si­on im Psych­ia­trie­all­tag: etwa durch die so­ge­nann­te Ex-In-Stra­te­gie, bei der ehe­ma­li­ge Psych­ia­trie-Er­fah­re­ne eine Aus­bil­dung er­hal­ten, um die the­ra­peu­ti­sche Ar­beit zu er­gän­zen. Er­folg­ver­spre­chend seien auch die So­te­ria-Wohn­mo­del­le, of­fe­ne Sta­tio­nen, die ohne Zwang und eben­falls mit Ex-In ar­bei­ten.

Die De­bat­te über Zwangs­be­hand­lun­gen in deut­schen Psych­ia­tri­en steckt vol­ler Am­bi­va­len­zen – aus Sicht der Be­trof­fe­nen wie aus Sicht der Ge­setz­ge­ber, Ärzte, An­ge­hö­ri­gen und Pfle­ger. Leicht sei der Um­gang mit dem sen­si­blen Thema nicht, sagt Rein­hard Wojke. Vor acht Jah­ren war er das letz­te Mal in der Psych­ia­trie. „Hof­fent­lich zum letz­ten Mal.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen