ARD-Langfilm „Im Spinnwebhaus“: Villa Kunterbunt, schwarz-weiß
Na endlich! Eine Alternative zu den Degeto-Fantasien. „Im Spinnwebhaus“ erzählt im Gewand eines Märchens von auf sich allein gestellten Kindern.
Was ist das nur für eine Mutter? Das ist die Frage, die der Film zunächst aufwirft. Ist sie einfach nur verantwortungslos, nicht willens, sich zusammenzureißen und für die Kinder da zu sein, die sie einmal in die Welt gesetzt hat?
Oder ist sie eine schwer liebende, aber psychisch auch schwer angeknackste Mutter, die, vom – verantwortungslosen – Vater der Kinder im Stich gelassen, diesen nur deshalb soviel abverlangt, damit sie nicht in ein Heim kommen?
Was sie ihnen abverlangt: Sie packt Jonas, zwölf Jahre alt, Nick, neun, und Miechen, vier, ins Auto, um sie beim Vater abzuladen: „Du kannst sie haben. Ich will sie nicht mehr.“ Der Vater will sie auch nicht, er hat schließlich einen Job: „Das hat nichts mit euch zu tun“, sagt er – den Satz wird er insgesamt dreimal zu den Kindern und zu sich selbst sagen.
Auf der Rückfahrt über die Serpentinenstraße ist die Mutter gefährlich unkonzentriert, der viel zu kleine Jonas muss übernehmen. Überhaupt muss Jonas jetzt ans Steuer: „Du bist jetzt der Chef, ja!“, sagt die Mutter. Und geht. „Ich bin am Sonntag wieder da“, sagt sie noch. Ist sie dann aber nicht.
„Im Spinnwebhaus“, Drama, D 2015, Regie: Mara Eibl-Eibesfeldt. Besetzung: Ben Litwinschuh, Helena Pieske, Lutz Simon Eilert, Ludwig Trepte, Sylvie Testud, Matthias Koeberlin. Di, 9.8.2016 um 22.45 Uhr, ARD
Stattdessen kommt eine verrätselte Mailbox-Nachricht: „Sie lassen mich noch nicht aus dem Sonnental. Die Dämonen. Ich habe sie noch nicht besiegt. Ihr dürft auf keinen Fall jemandem sagen, dass ihr allein seid! Sonst nimmt man euch weg!“
Jonas näht die Wunde selber
Jonas, Nick und Miechen allein zu Haus: Villa Kunterbunt, mit Essen schmeißen, Höhlen bauen – keine frische Wäsche mehr haben, kein Geld, kein Essen, keinen Strom… Es geht so weit, dass Jonas eine Wunde, die Miechen von einem Fahrradunfall hat, selber näht. Denn im Krankenhaus würde man ja Fragen stellen.
Der Plot ist der eines Sozialdramas – was der auf einem realen Fall basierende Film bestimmt ausschließlich wäre, wäre er ein ambitionierter Fernsehfilm für den „FilmMittwoch im Ersten“. Er ist aber ein „FilmDebüt im Ersten“. Und von einer Debütantin, der Regisseurin Mara Eibl-Eibesfeldt, darf man erwarten, dass sie noch etwas – mehr – will.
Der Mehrwert ihres Films ist die – vermeintliche – Nichtübereinstimmung von Inhalt und Form. Formal ist „Im Spinnwebhaus“ nämlich das: ein Märchenfilm! Vermeintlich ist die Nichtübereinstimmung nur deshalb, weil ja auch Hänsel und Gretel allein gelassen wurden.
Vielen Märchenerzählungen liegt ein Sozialdrama zugrunde. Nur spielen die klassischen Märchen nicht in der Gegenwart.
Mit Akira Kurosawas „Das Schloss im Spinnwebwald“ hat „Im Spinnwebhaus“ nur die schwarz-weißen Bilder gemein. Näher kommen ihm Terry Gilliam, Tim Burton oder Guillermo del Toro – die Märchenonkel des Gegenwartskinos. Gerade del Toro, der es in der Durchdringung von zeitgeschichtlichem Realismus mit Märchenmotiven zu großer Meisterschaft gebracht hat.
Spinnweben alter Märchen
Erstaunlich ist die Souveränität, mit der Mara Eibl-Eibesfeldt so eine Genrekreuzung bereits mit ihrem Debüt fertigbringt (Drehbuch: Johanna Stuttmann). Und da hier, in unserem Genrekino-Verächterland!
Da besetzen die namhaften Schauspieler – die Französin Sylvie Testud, Ludwig Trepte und Matthias Koeberlin – nur Nebenrollen. Fast den gesamten darstellerischen Part in einem Film, der kein Kinderfilm ist, der aber ganz auf die Perspektive und Logik der Kinder fokussiert, bestreiten die drei Kinder: Ben Litwinschuh, Lutz Simon Eilert und Helena Pieske.
Und dieser kindliche, an Märchen geschulte Blick wird in den Bildern aufgefangen. Immer dichter und wattiger durchziehen, überziehen sie die verwahrlosende Wohnung: die Spinnweben alter Märchen. Großaufnahmen machen aus Viehzeug Märchenwesen.
Mit Jürgen Jürges hat die junge Regisseurin einen Kameramann gewählt, der in 50 Jahren mit „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ oder „Angst essen Seele auf“ einige Meilensteine der (anderen) deutschen Filmgeschichte gedreht hat.
Die Tendenz der Stadt Heidelberg in Richtung Puppenstube lässt die Atmosphäre noch einmal dunkelromantisch-verwunschen werden. Eine mit Spinnen tätowierte gute Fee namens Felix Graf von Gütersloh spricht in Reimen; ein Zaun lässt sich von Jonas in der Not per Zauberspruch überwinden: „Oh Spinn', oh Spinn‘, ach bring, ach bring, mich doch dahin, wo ich nicht bin!“
„Im Spinnwebhaus“ ist in diesem Sommer der letzte Film in der Reihe „FilmDebüt im Ersten“. Ihre Märchenstunde für Erwachsene wird die ARD bald wieder ausschließlich mit den Degeto-Erzeugnissen am Freitagabend bestreiten.
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