Barrierefreiheit mit Barrieren: Barrieren trotzen Baurecht
Der Bedarf für uneingeschränkt barrierefreien Wohnraum wächst, aber das Angebot in Bremen stagniert – auch, um Bauunternehmen nicht abzuschrecken.
BREMEN taz | Im Land Bremen sind in den vergangenen Jahren „so gut wie keine uneingeschränkt rollstuhlgerechten Wohnungen entstanden“: Das behauptet zumindest die Bürgerschaftsfraktion der CDU – und bekommt Recht von Wilhelm Winkelmeier vom Verein „Selbstbestimmt leben.“ Dennoch sieht er für Menschen, die auf Rollstuhl oder Rollator angewiesen, eine positive Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt.
„Trotz wachsenden Bedarfs hat sich die Lage auf dem freien Wohnungsmarkt entspannt für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die eben nicht in Senioren- oder Behinderteneinrichtungen leben wollen oder müssen“, sagt Winkelmeier. Großen Anteil an der Entwicklung habe die Landesbauordnung. In der Fassung von 2010 schreibt sie vor, dass in allen Neubauten mit Fahrstuhl (verpflichtend ab fünf Geschossen) auch „alle Wohnungen barrierefrei ausgeführt werden müssen“.
Nur der Zugang ist barrierefrei
Barrierefrei bedeute hier aber tatsächlich nur „eingeschränkt barrierefrei“, präzisiert Winkelmeier. Ermöglicht werde der problemlose Zugang für Gehbehinderte und Rolllatornutzer: „Die Wohnungen müssen laut Landesbauordnung aber nicht rollstuhlgerecht, also uneingeschränkt barrierefrei sein.“ Das erfordere eine größere Grundfläche, nämlich mindestens 1,50 mal 1,50 Meter Bewegungsfläche vor Türen und Schränken, und weitere Investitionen in eine behindertengerechte Toilette sowie eine bodengleiche Dusche.
Hilfreich für den Bau auch solcher Wohnungen im bezahlbaren Segment sei die Kopplung mit der bremischen Wohnbauförderung. 120 Millionen Euro wurden in den drei bisherigen Programmen bereitgestellt. Sie sollen als niedrigzinsige, also günstige Kredite an Bauherren vergeben werden, die als Gegenleistung in ihren neuen Immobilien mindestens 25 Prozent sozialen Wohnraum anbieten.
Jobcenter übernimmt Mehrkosten nicht
Bedeutet das bezahlbare Mieten für rollstuhlgerechte Wohnungen? „Nein“, sagt der Landesbehindertenbeauftragte Joachim Steinbrück: „Gerade Bezieher von Transferleistungen wie Hartz IV müssen erleben, dass das Jobcenter den Neubauquadratmeterpreis als zu hoch ablehnt und die Mehrkosten nicht übernimmt.“ Ganz eindeutig mit Ja antwortet der Senat und listet auf, dass seit 2013 in Bremen 39 rollstuhlgerechte Wohnungen geschaffen worden, 15 weitere gerade in Planung seien.
Manfred Corbach, Gewoba
Der Tatsache stünden aber 22 bisher unerfüllte Wohnungsgesuche bei der Beratungsstelle „Komfort e. V.“ gegenüber, das Amt für Soziale Dienste führe weitere zehn Anwärter auf einer Warteliste. Winkelmeier schätzt, dass die Nachfrage derzeit um bis zu 50 Wohnungen über dem aktuellen Angebot liege. Steinbrück spricht von einer „hohen Grauziffer“, da gerade ältere Menschen, die plötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen sind, lieber in ihrer dafür ungeeigneten Wohnung blieben, anstatt einen Umzug zu organisieren.
Zu Vermittlungszwecken verfügbaren Wohnraums wurde im Internet unter www.barrierefrei-wohnen-bremen.de eine Onlinedatenbank eingerichtet. „Kannste vergessen“, sagt Winkelmeier. Die von 13 Bremer Wohnungsanbietern betriebene Internetplattform werde zu selten aktualisiert. „Dort finde ich weniger, als wenn ich gleich auf der Gewoba-Seite suche.“ Das Wohnungsunternehmen hat derweil festgestellt, dass nur in Stadtteilen mit sehr guter Infrastruktur, wie dem Bremer Zentrum, auch rollstuhlgerechte Wohnungen nachgefragt seien.
Vorbild Niedersachsen
„Diesbezügliche Angebote beispielsweise in Huchting und der Überseestadt mussten wir daher anderweitig vermieten“, so Manfred Corbach, Prokurist der Gewoba-Wohnungswirtschaft. „Aber jede unserer jährlich 200 bis 300 Neubauwohnungen ist inzwischen barrierefrei und etwa fünf Prozent sind zudem rollstuhlgerecht.“
Die Fünf-Prozent-Quote ist auch diejenige, die als Zielvereinbarung im Koalitionsvertrag der Bremer Regierung steht. Mitte 2017 soll daher ein entsprechender Passus in der Novelle der Landesbauordnung festgeschrieben werden. Der Senat peilt eine Regelung an, die sich am Vorbild Niedersachsen orientiert: Dort muss jede achte Neubauwohnung rollstuhlgerecht sein.
„Eine höhere Quote ist wünschenswert und auch vorstellbar, aber man fürchtet in Bremen, damit Bauunternehmen zu verschrecken, die dann lieber im niedersächsischen Umland investieren, wenn es dort weniger Vorgaben gibt“, sagt Steinbrück.
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