Liebeserklärung: Die Insel
Parlamentarismus, Politeness und Punk: Wir brauchen die Briten, die gerade in der Krise am coolsten sind
Der Ur-Brexit spielte sich vor 200.000 Jahren ab. Seitdem ist Großbritannien eine Insel. Vorher war der Ärmelkanal nur ein Fluss, das Land der späteren Briten eine Halbinsel. Erst wanderten Neandertaler, dann Homo sapiens ein. Seither ist die Insel ein eigentümlicher Ort. Migrationswellen, Eroberungen und Invasionen von Römern, Angelsachsen, Wikingern und Normannen saßen ihre Bewohner aus.
Zwar wurde schon 1215 zwischen König und Adel die Magna Carta vereinbart. 1689 formulierte die Bill of Rights die Rechte des britischen Parlaments gegenüber dem Königshaus. Aber eine moderne Verfassung haben die Briten bis heute nicht, weswegen man sich dort weiterhin auf mittelalterliche Gesetze berufen kann.
Die Inselbewohner entwickelten über die Jahrhunderte eine rustikale Renitenz und einen frotzelnden Humor. Die Briten lieben es, sich und die anderen hochzunehmen. Ihre zivilisierte Politeness steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen der Brite rude werden kann, wenn es sein muss.
Diese Eigenschaften kommen immer dann so richtig zur Geltung, wenn die Insel bedroht ist. Als Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg seine Kolonien und seine Industrie verlor, begann die Popkultur zu blühen. Die Jugend der Welt ließ sich wegen der Beatles die Haare wachsen. Als Albion Mitte der Siebziger ökonomisch am Boden lag, forderten junge Frauen und Männer lautstark ihr Recht auf eine eigene Stimme. England exportierte Punk statt Autos und strafte Maggie Thatchers Behauptung Lügen, eine Gesellschaft gebe es nicht.
Die Frage des Appeasements ruft noch heute starke Gefühle hervor, weil die Insellage die Briten nicht schützte. War es richtig, den Kontinent Hitler zu überlassen, oder hätte man sich früher wehren müssen? Das Übel kam als Blitz über den Kanal. Die Insel ist auf den Kontinent angewiesen, der Kontinent auf die Insel. Ob in der EU oder draußen: Wir Europäer brauchen sie, als Gegengewicht, als Quelle der Innovation und des subversiven Gelächters: Don’t leave us alone with the Germans, please! Ulrich Gutmair
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