Tödliche Flüchtlingspolitik der EU: Sie wussten, was sie tun
Auf EU-Geheiß wurde ab 2014 nur noch die Küste Italiens kontrolliert. Dass deshalb die Todeszahlen steigen würden, hatte die EU selbst vorhergesagt.
Vor genau einem Jahr ertranken in einer einzigen Nacht 800 Menschen vor der libyschen Küste. Ein überladenes Flüchtlingsboot war gekentert, herbeigerufene Retter suchten mit Hubschraubern vergeblich nach Überlebenden. „Da sind nur Kraftstoff und Trümmer, wir finden nichts mehr“, sagte einer von ihnen. Bis zum Ende des Jahres 2015 stieg die Zahl der Ertrunkenen auf rund 3.700 – mehr als je zuvor.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte vor diesem Anstieg der Zahl an Schiffskatastrophen gewarnt. Trotzdem entschied sich die EU, die italienische Seerettungsmission „Mare Nostrum“ vor Libyen 2014 zu beenden. Das zeigt eine am Montag vorgestellte Studie des Londoner Goldsmith College. Darin haben die Wissenschaftler teils interne EU-Dokumente und Tagungsprotokolle ausgewertet.
Demnach hielt Frontex die Mission „Mare Nostrum“ für einen „Pull-Faktor“: Sie verleite Flüchtlinge in Libyen, in See zu stechen, weil sie nicht weit kommen müssten, um Aussicht auf Rettung zu haben. Genau diese Aussicht solle es nicht mehr geben – dann würden „nennenswert weniger Migranten“ den Aufbruch riskieren. Deshalb sollte die Operation der italienischen Marine gestoppt und das Seegebiet vor Libyen nicht weiter überwacht werden. Ersatzweise sollte Frontex eine eigene Mission namens „Triton“ starten, die nur die unmittelbaren Küstengewässer Italiens im Blick behält.
In einem im August 2014 von Frontex verfassten Konzept für die „Triton“-Mission warnte die Agentur jedoch, es sei „wahrscheinlich“, dass der Rückzug von Italiens Marine einen Anstieg der Todeszahlen zur Folge haben. „Die Priorität von EU und Frontex gebührte klar der Abschreckung. Das hatte Vorrang vor Menschenleben“, kommentierte der Goldsmith-Forscher Lorenzo Pezzani. Den EU-Entscheidungsträgern sei das Risiko „im Detail bewusst gewesen“.
Das Projekt: Die Europäische Grenzpolitik will Flüchtlinge von Europa fern halten. Aber für fliehende Menschen gibt es oft keinen Weg zurück. Es entstehen neue Routen, andere Wege. In einer interaktiven Onlinegrafik auf taz.de/fluchtrouten zeigen wir, wie politische Entscheidungen die Fluchtrouten in den vergangenen beiden Jahren beeinflusst haben.
Am 3. September 2014 lud der Innenausschusses LIBE des Europäischen Parlaments den damaligen Frontex-Chef Gil Arias zu einer Anhörung ein. Die Abgeordnete Barbara Spinelli fragte ihn, ob er sich „bewusst sei, dass wieder mehr Menschen im Mittelmeer sterben werden“, wenn „Mare Nostrum“ beendet sei. Arias antwortete, die „Triton“-Mission werde „Mare Nostrum“ nicht ersetzen, weder ihr Mandat noch ihre verfügbaren Ressourcen.
Trotzdem lief „Mare Nostrum“ Ende 2014 offiziell aus, an ihre Stelle trat „Triton“. Italien war nicht ganz wohl mit dieser Entscheidung: Rom beendete zwar offiziell „Mare Nostrum“, ließ aber einige Schiffe vorerst weiterhin für Rettungseinsätze nahe Libyen kreuzen. Frontex versuchte dies zu unterbinden: In einem Brief vom Dezember 2014 forderte die Agentur die italienische Regierung auf, dies zu unterlassen – es entspreche „nicht dem operativen Plan“.
In den folgenden Monaten gingen die Unglückszahlen steil nach oben. Zwei Wochen nach den schweren Schiffsunglücken, am 29. April 2015, nannte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Ende von „Mare Nostrum“ „einen Fehler, der Menschenleben gekostet hat“. Einige Staaten, darunter Deutschland, schickten daraufhin Marineeinheiten, die EU weitete das Einsatzgebiet von „Triton“ aus: Statt 30 Meilen patrouillierten die Schiffe nun bis zu 138 Seemeilen südlich von Italien – noch immer weit von Libyen entfernt. Trotzdem wurde 2015 nach der Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge zum Rekordjahr.
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