: Cameron muss weiterkämpfen
Grossbritannien Sechs Minister und Staatssekretäre haben sich bereits für den „Brexit“ ausgesprochen. Doch der sonst EU-kritische Labour-Xhef Jeremy Corbyn ist dagegen
Aus Dublin und Brüssel Ralf Sotscheck und Eric Bonseund Ralf Sotscheck und Eric Bonse
David Cameron feiert sich nach den Verhandlungen mit den anderen 27 EU-Ländern als Sieger. Das muss der britische Premierminister auch, will er seine Landsleute von der Notwendigkeit überzeugen, im Referendum am 23. Juni für einen Verbleib in der Union zu stimmen.
Seinen Kabinettsmitgliedern hat es Cameron selbst überlassen, sich für oder gegen den „Brexit“, den Austritt Großbritanniens, zu engagieren. Allerdings mussten sie damit warten, bis der Deal mit Brüssel unter Dach und Fach war. Kaum war das nach einer Marathonsitzung am späten Freitagabend geschehen, sprachen sich sechs Minister und Staatssekretäre für den Brexit aus.
Minister für den Brexit
Das wichtigste Aushängeschild der Aussteiger ist Justizminister Michael Gove, ein enger Vertrauter des konservativen Premierministers. „Über Gesetze, die Bürger unseres Landes betreffen, entscheiden Politiker anderer Nationen, die wir nie gewählt haben und auch nicht abwählen können“, monierte Gove am Samstag. Für den 48-Jährigen, in dessen Büro früher Bilder von Lenin und Malcolm X hingen, ist Großbritannien „das beste Land der Welt mit mehr Nobelpreisträgern und führenden Universitäten als alle anderen europäischen Staaten und der attraktivsten Hauptstadt der Welt.“
„Diejenigen, die aus der Europäischen Union austreten wollen, können nicht sagen, ob britische Unternehmen dann noch Zugang zum europäischen Einheitsmarkt haben, ob die Arbeitsplätze sicher sein und um wie viel die Preise steigen werden“, erklärte dagegen der Premierminister selbst. Und Labour-Chef Jeremy Corbyn, der sich früher stets kritisch zur EU geäußert hatte, plädierte nun ebenfalls für einen Verbleib. „Teil von Europa zu sein hat Britannien Investitionen, Jobs und Schutz für Arbeiter, Verbraucher und Umwelt gebracht“, schrieb er am Sonntag im Observer.
Die anderen EU-Regierungschefs haben Cameron viele, aber nicht alle Wünsche erfüllt. So dürfen die Sozialleistungen für EU-Migranten in Großbritannien in den ersten vier Jahren nicht völlig ausgesetzt werden, sondern müssen schrittweise ansteigen. Das Kindergeld soll an die Lebenshaltungskosten in den Ländern angepasst werden, in denen die betroffenen Kinder tatsächlich leben. Außerdem muss Großbritannien weder eine „immer engeren Union“ unterstützen noch jemals den Euro einführen.
Ob das genügt, um die Wahlberechtigen zu einem Ja zur EU zu bewegen, ist ungewiss. Viel hängt von Boris Johnson ab, dem exzentrischen Bürgermeister von London. Er wollte seine Entscheidung am späten Sonntagabend verkünden und die Gründe dafür in seiner Kolumne im Daily Telegraph am Montag nachliefern. Sollte sich Johnson, der als Nachfolger von Cameron gehandelt wird, für den Brexit einsetzen, könnte es eng werden. Privat soll sich Johnson unzufrieden mit dem Verhandlungsergebnis geäußert haben.
Auch in Brüssel hat Camerons Deal keine Begeisterung ausgelöst. Zwar lobte Kommissionschef Jean-Claude Juncker: „Die Einigung ist gut, die Einigung ist juristisch solide, die Einigung ist im hohen Maße ausgeglichen.“ Doch im Europaparlament gibt es erhebliche Vorbehalte – und dessen Abgeordnete müssen den geplanten Änderungen zustimmen, damit sie tatsächlich in Kraft treten können.
„Es darf auf keinen Fall EU-Arbeitnehmer zweiter Klasse geben“, warnte Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms mit Blick auf die Aussetzung von Sozialleistungen für EU-Ausländer. „Cameron will mehr Lohndumping und Finanzkasino“, twitterte der linke Finanzexperte Fabio de Masi. Die EU dürfe sich jedoch nicht erpressen lassen. „Volksabstimmung auch im Rest der EU“, fügte er hinzu.
Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Jo Leinen will bei den Beratungen im Parlament darauf achten, dass die Grundprinzipien der EU nicht unterlaufen werden. „Es darf keinen Freibrief für Rosinenpickerei geben“, warnt er.
Demgegenüber hielten sich die Konservativen, die die größte Fraktion im Europaparlament stellen, auffällig zurück. Seit die Tories eine eigene Gruppe gegründet haben, ist das Verhältnis unterkühlt. Andererseits will man aber auch nicht Juncker in den Rücken fallen, der sich auf die Konservativen stützt.
An der neuen Kindergeldregelung für EU-Ausländer,die David Cameron in Brüssel ausgehandelt hat, findet auch Bundeskanzlerin Angela Merkel Gefallen – sie will sie auch in Deutschland anwenden.
Der EU-Gipfel hatte am Freitagabend beschlossen, dass EU-Staaten künftig nicht mehr verpflichtet sind, Kindern von EU-Ausländern den vollen Kindergeldsatz zu zahlen, wenn diese noch in den Herkunftsländern leben.
Vor allem Bürger osteuropäischer Staaten sind von der neuen Regelung betroffen. (rr)
Die Stunde des Parlaments
Fest steht, dass die Gipfelbeschlüsse aus Sicht des Europaparlaments noch keine verbindlichen Einigungen sind. „Jetzt muss Cameron liefern und die Briten überzeugen“, fasst Leinen die allgemeine Stimmung zusammen. Schafft er das nicht, dann sind auch die Zugeständnisse der EU hinfällig.
Doch selbst wenn Brüssel grünes Licht gibt, bleiben noch mehrere Unbekannte. Da ist zum einen die Änderung des EU-Vertrags, die Cameron fordert, um seinen Deal wasserdicht zu machen. Viele Regierungen wollen aber nicht am Vertrag rütteln – schon aus Angst vor den dann nötig werdenden Referenden in ihren Ländern.
Und dann sind da noch die rechtlichen Hürden. In der Bundesregierung rechnet man mit Klagen gegen die Änderungen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der müsste entscheiden, ob die Ausnahmen, was Sozialausgaben angeht, mit EU-Recht vereinbar sind, was viele Experten bezweifeln.
Denn der „faire Deal“ ist, streng juristisch betrachtet, ziemlich unfair. Arbeitnehmer aus der EU werden benachteiligt. Sollte auch der EuGH zu dieser Auffassung kommen, müsste Cameron wieder ganz von vorne anfangen.
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