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Bedrängende OperDer Terror des Tons

Mit einem überwältigungsästhetischen Ansatz gelingt dem Regisseur Paul-Georg Dittrich am Goetheplatz eine Wozzeck-Inszenierung.

Claudio Otelli als Wozzeck weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Foto: Landsberg/Bremer Theater

BREMEN taz | Die Welt ist viel zu viel. Es kann sein, dass es irgendwelche Superhelden und Agenten gibt, die damit klarkommen, ihre Verwicklungen durchschauen und denen es gelingt, ihre Überfülle zu meistern und für die eigenen verborgenen Zwecke nutzbar zu machen. Aber Wozzeck, der Multijobber, der es als Barbier, Laufbursche, Testperson für klinische Studien so eben schafft, Marie, seinem Kind und sich selbst was zum Beißen zu besorgen, bis ihre prekäre Existenz endlich in die Katastrophe des Todestons mündet, dem anschwellenden Unisono-H des Mordes, in dem alles kollabiert, nein, also Wozzeck meistert sie nicht.

Alban Berg bettet, nein er erdrückt die Titelfigur seiner ersten Oper in einem undurchdringlichem Übermaß der Formen, einem System aus Systemen: Im Jahr 1913 hatte er in München die posthume Uraufführung von Georg Büchners Dramenfragment erlebt. Die unerträgliche Schwierigkeit der Welt ist, was Berg für seine erste Oper daraus als eine Art Essenz herausgezogen und zu einem – vielleicht dem – bestimmenden Thema seines großen musikdramatischen Wurfs gemacht hat. Dass niemand bei einer Aufführung von Wozzeck die Formenvielfalt aus Passacaglien, Fugen, Satztechniken und ihren Spiegelungen mitbekommen würde, hatte Berg fest eingeplant. Er komponiert sie gleichsam als eine Oper, die sich selbst übertönt.

Diesem Terror der Komplexität hat Regisseur Paul-Georg Dittrich mit einer überwältigenden Inszenierung im Theater am Goetheplatz das Bremer Publikum ausgesetzt: Den 80er-Jahre-Regisseuren gefiel es noch, den Sadismus des Doktors, der an Wozzeck in 21 Variationen erforscht, was mit einem Menschen passiert, wenn er sich ausschließlich von Bohnen ernährt, als prophetischen Vorgriff auf den Mengeles zu identifizieren, und alles so vor die Folie Auschwitz zu stellen.

Dittrich aber verzichtet am Theater Bremen darauf, ein spezifisches Grauen aufzusuchen und entwickelt das Stück in einer ortlosen Moderne, die keine Geschichte und keine Aktion, sondern nur eine Vielfalt des gleichzeitigen Geschehens und einen freidrehenden Aktionismus kennt. Vergangenes Wochenende Premiere: „Wir arme Leut’„ flüchtet Wozzeck im Krebsgang ins Selbstmitleid, als ihm der Hauptmann, den er in der Eingangsszene einseift, seine moralische Unzulänglichkeit vorhält. Und so mag sich angesichts der strategisch klugen, permanenten Reizüberflutung auch der eine oder andere im Publikum gefühlt haben: Ständig passiert irgendetwas.

Die Bühne dreht sich. Im Untergrund der auf ihr von Pia Dederichs und Lena Schmid errichteten, verwinkelten Stadt aus Brettern- und Stahlgerüsten wird kopuliert. Lebensgroße Aufziehmännchen laufen quer durchs Bild. Im Hintergrund, gespenstisch vergrößert, wird, den feinen Horror dieser Projektionen hat Jana Findeklee designt, in einen nur unter Qualen geöffneten, verzerrten Mund, Bohnenmus gestopft. Vorn läuft ewig die Glotze: Die Kinder knien vor einer im Stile Nam June Paiks aufgebauten Fernseher-Pyramide, und sie schauen wie gebannt auf einen Loop aus schönen Bildern von rollenden Panzern, marschierenden Soldaten und einer aufblinkenden Schriftbotschaft: „Gehorsam!“ Und die Bühne dreht sich weiter.

Das ist natürlich alles zu viel. Das können wir gar nicht genießen, wir armen Leut’. Wir können uns gar nicht an der Exaktheit der von Markus Poschner dirigierten Philharmoniker erfreuen. Auch dem wundervollen Schmelz von Claudio Otellis Bariton sich hinzugeben, fällt schwer, was nicht daran liegt, dass er bei der Premiere anfangs noch offenkundige Mühe hat, sich die tonikal ungebundenen Klänge Bergs vorzustellen: Und klar, es ist ein extremes Glück, Nadine Lehner als Marie zu hören.

Ihre Stimme durchlebt diese Partie, die von schriller Lust beim Sex mit dem Tambour-Major über die elendeste Depression, die bebenden Angst- und Schuldgefühle gegenüber dem betrogenen Wozzeck bis hin zur fast entrückten warmen Zärtlichkeit des Wiegenliedes reicht, und sie lässt sie durchleben. Und doch lastet über allem ein Schatten, weil Bergs Oper uns in dieser hervorragenden Inszenierung auf die Pelle rückt. Sie lässt uns keine Ruhe. Sie bedrängt, belastet, überfordert uns – mit ihrer tiefen Hoffnungslosigkeit. Mehr lässt sich von Musiktheater nicht erwarten.

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