piwik no script img

Kommentar Menschenrechte in RusslandEin Recht auf Schauprozesse

Kommentar von Barbara Oertel

Russland will Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kippen. Rechtsbrüche werden so zur inneren Angelegenheit erklärt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt den Klägern ein Stück Gerechtigkeit. Foto: dpa

A nfang Dezember verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Russland zur Zahlung von 260.000 Euro Schadensersatz an die Familien von vier Tschetschenen. Zwei von ihnen waren in den Jahren 2000 bis 2004, also während des zweiten Tschetschenienkrieges, getötet worden, zwei sind bis heute spurlos verschwunden. Die Verantwortlichen für diese Gräueltaten, die in der Kaukasusrepublik an der Tagesordnung waren und tausenden unschuldigen Menschen das Leben kosteten, wurden nie ermittelt.

Auch wenn Geld den Verlust von Angehörigen nicht aufzuwiegen vermag, widerfährt den Klägern doch zumindest ein Stück Gerechtigkeit. Das dürfte in Zukunft anders werden: In dieser Woche unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin ein Gesetz, dem zufolge das Verfassungsgericht Urteile des EGMR kippen kann, so es diese für verfassungswidrig befindet. Im Klartext bedeutet dies: Menschenrechtsverletzungen können je nach Gusto zu einer inneren Angelegenheit erklärt werden.

Nachdrücklicher kann der Kreml gar nicht demonstrieren, was ihm die Verpflichtungen wert sind, die er selbst eingegangen ist: nichts. 1996 wurde Russland Mitglied des Europarats – eine Institution, die sich der Durchsetzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verschrieben hat. Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zwei Jahre später verpflichtete sich Moskau, auch die Urteile des EGMR zu befolgen – ein Grundsatz, der auch in Artikel 15 der russischen Verfassung festgeschrieben ist.

Damals hegten noch viele Beobachter die Hoffnung, die Mitgliedschaft Russlands im Europarat könne den Reformprozess hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie eine Annäherung an westliche Standards befördern. Doch nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Die Justiz ist ein willfähriger Erfüllungsgehilfe des Kreml – vor allem immer dann, wenn es darum geht, kritische Stimmen in Verfahren, die an Schauprozesse zu Sowjetzeiten erinnern, zum Schweigen zu bringen.

Kein Handlungsbedarf

Mittlerweile stammt ein Großteil der Beschwerden, mit denen sich der EGMR befassen muss, aus Russland. Bis Ende 2014 wandten sich fast 130.000 Bürger an das Gericht in Straßburg. Von 1.600 angenommen Klagen wurden 1.503 zugunsten der Kläger entschieden, das heißt eine Verletzung der EMRK festgestellt. Viele Urteile betreffen das Schicksal getöteter beziehungsweise verschleppter tschetschenischer Zivilisten. Zwar zahlte Russland in der Regel die geforderte Entschädigung, sah aber keinen Handlungsbedarf, die Täter dingfest zu machen und zur Verantwortung zu ziehen.

Nun, nach der jüngsten Volte des Kreml, ist der Europarat mehr denn je gefordert. Denn schließlich steht nichts Geringeres auf dem Spiel als seine Glaubwürdigkeit. Dass die Herren und Damen in Straßburg auch anders können, zeigte sich 2014, als sie nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim den russischen Vertretern das Stimmrecht entzogen.

Erste Reaktionen von Thorborn Jagland, Generalsekretär des Europarats, klingen eher verhalten. Erst einmal abwarten, wie denn das neue Gesetz angewendet wird, scheint die Devise zu sein.

Wird Russland also den ehemaligen Aktionären des zerschlagenen Yukos-Konzerns 1,9 Milliarden Euro Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren zahlen? Ein Urteil, das Experten zufolge der Grund dafür ist, dass Putin das neue Gesetz ausgerechnet jetzt unterzeichnete.

In Bälde wird sich der EGMR übrigens auch zu der Frage äußern müssen, inwieweit die Militäraktionen prorussischer Kämpfer im Osten der Ukraine Russland zuzurechnen sind. Sollte er eine Beteiligung Russlands konstatieren, dürfte das Votum der Verfassungshüter klar sein: verfassungswirdrig!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Der Europarat ist ansich ein Gremjium, das man nie demokratisch nennen konnte. Leider sind auch niemals Aktionen verfolgt worden, dieses Gremium demokratischer zu gestalten.

    Rußland hatte mit seinen ca. 120 Mio Einwohnern im europäischen Teil bis zur Aberkennung des Stimmrechts gerade mal soviel Stimmen wie die Beneluxstaaten mit ihren knapp 30 Mio.

    Die russische Föderation wird sich daraus ganz zurückziehen und das ist auch angesichts der ideologischen Borniertheit der meisten anderen Mitglieder ganz richtig.

  • Der Vollständigkeit halber: Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte entscheidet ja auch gerne mal das es gegen die Menschenrechte verstösst einem Räuberbaron wie Chodorkowski dafür zu verurteilen das er Milliardär wurde ohne jemals Steuern in nachweisbarem Umfang zu zahlen.

  • Der Artikel verschweigt, dass das die meisten Urteile nicht gegen Russland gesprochen werden - auch wenn es im Artikel so klingt, es ist mit Abstand das NATO Mitglied Türkei.

     

    Baut Erdogan nicht auch gerade die Justiz um?

  • Das ist in der Tat ein sehr schlechte Entwicklung. Putin hat zu diesem Schritt eine Art Vorlage von den übrigen Staaten erhalten. Sein Stimmrecht im Europarat haben die anderen europäischen Staaten ausgesetzt und Russland aus den Führungsgremien des Europarats ausgeschlossen. Wie soll man von Russland Vertragstreue einfordern können, wenn man selbst vertragsbrüchig ist?

    Daneben gibt es leider bei der Türkei, UK und selbst der Schweiz Diskussionen die Urteile des EGMR nicht mehr anzuerkennen. Frankreich will sogar die EMRK pauschal ganz aussetzen. Selbst das Bundesverfassungsgericht ist da nicht immer vorbildlich - so z.B. wenn es die Rechte von Kindern und Vätern betrifft, was in Deutschland wohl die häufigsten Menschenrechtsverletzungen sind.

    Es zeigt also nicht nur ein Finger auf Putin sondern es zeigen auch 4 Finger auf die anderen europäischen Länder zurück. Das macht die Sache allerdings keineswegs weniger gravierend - im Gegenteil: Die Menschenrechte sind in Europa akut gefährdet: In Russland, der Türkei und Frankreich. Andere Staaten warten leider nur darauf, diesem negativen Trend nachzufolgen.

    • @Velofisch:

      Dem 4-Finger-Prinzip kann man zustimmen. Auch die deutsche Justiz ist alles andere als vorbildlich, und weitgehend nur dem Namen nach unabhängig.