piwik no script img

Umstrittene HeimbetreuungZur Strafe kein Besuch zuhause

Hamburg schiebt massiv betreuungsbedürftige Kinder in andere Bundesländer ab. Viele der dortigen Einrichtungen nutzen repressive Methoden.

Wird teils ersatzlos gestrichen: Wochenendbesuch zu Hause. Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz | Erst mal blieb die Frage unbeantwortet. Als die FDP-Abgeordnete Anita Klahn im Sommer wissen wollte, welche Kinderheime mit ähnlichen Konzepten arbeiten wie der umstrittenen Betreiber Friesenhof, erhielt sie von der Kieler Landesregierung zur Antwort: Diese Frage unterliege dem Geschäftsgeheimnis der Heimträger. In Hamburg hat es nun die Linken-Abgeordnete Sabine Boeddinghaus noch mal versucht: Sie fragte den Senat danach, welche Bedingungen in den auswärtigen Heimen herrschen, in denen Hamburg Kinder unterbringt. Auf mehr als 100 Seiten bringt die Antwort des Senats Licht in das Dunkelfeld – Boeddinghaus sagt, sie sei erschrocken: „Der Senat ist offenbar beratungsresistent, was diese Pädagogik angeht.“

Insgesamt 1.626 Hamburger Kinder und Jugendliche von null bis 21 Jahren lebten demnach zum Stichtag 30. September in rund 500 auswärtigen Einrichtungen, die meisten davon in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Angeblich gibt es in der Großstadt keine bezahlbaren Grundstücke für mehr eigene Jugendwohnungen: So heißt es seit inzwischen 15 Jahren. Jugendämter streben aber auch bewusst einen „Milieuwechsel“ an, wie eine interne Liste aus der Hamburger Sozialbehörde ausführt. Überforderung der Eltern, zu hohe Schul-Fehlzeiten, eine geistige Behinderung der Eltern, sexueller Missbrauch oder schlicht eine gescheiterte Unterbringung: In Hamburg sind das alles Gründe, ein Kind aus der Stadt zu bringen. Für den Hamburger Sozialwissenschaftler Timm Kunstreich, der seit Jahren für die Abschaffung der auswärtigen Unterbringung streitet, ein Unding. „Ich habe noch nie ein Kind erlebt, das die auswärtige Unterbringung nicht als Bestrafung erlebt“, sagt der Sozialforscher, der einige Jahre in der Jugendverwaltung gearbeitet hat.

„Beurlaubung gestrichen“

Hinzu kommt, dass viele der zum Teil kleinen Heime eher repressiv arbeiten: Allein 78 Einrichtungen erlauben in den ersten zwei bis acht Wochen keine Besuche bei der „Herkunftsfamilie“. 61 dieser Heime schränken auch darüber hinaus den Kontakt ein. In Einzelfällen würden „Wochenendbeurlaubungen als Konsequenz für unerlaubtes Verhalten gestrichen“, schreibt der Hamburger Senat auf Boeddinghaus‘ Anfrage hin. „Reine Repression, die zu äußerem Gehorsam zwingt“, sagt dazu Timm Kunstreich. Auch der Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer urteilt: „Wenn Eltern so etwas machen, habe ich noch einen Rest von Verständnis. Bei staatlich bezahlten Pädagogen nicht“.

Hammer, der bis 2013 die Abteilung Jugendhilfe in Hamburgs Sozialbehörde leitete, kritisiert die interne Beschulung in den Heimen. „Die Kinder kommen nicht unter Freunde und haben keine alternativen Kontakte“. Aber Heimschulen sind weit verbreitet: 181 Einrichtungen, also mehr als jede dritte, hat diese interne Beschulung, 74 davon liegen in Niedersachsen, 78 in Schleswig-Holstein. Der Hamburger Senat schreibt, es sei zwar Ziel, eine Integration in normale Schulen zu ermöglichen. Ob das gelingt, sei nicht nur von den Kindern abhängig, sondern „von den jeweiligen Ressourcen der Schulen“ vor Ort. Hammer nennt das „verantwortungslos“. Denn in Hamburg haben die Kinder ein Recht auf Inklusion.

Und die Antwort des Senats offenbart noch mehr: Die Skandalheime jüngster Zeit hatten ein Phasen- oder Stufenmodell, in dem die Handlungsfreiheit zunächst stark eingeschränkt ist. Im Friesenhof gab es etwa Plus- und Minuspunkte, mit denen Verhalten belohnt oder bestraft wurde. Insgesamt 42 Einrichtungen, in denen Hamburg Kinder unterbringt, haben eine Art Phasenmodell, 115 ein Punktesystem. In acht der Heime gibt es gar einen „Time out Raum“, in denen Jugendliche bei Krisen verbracht werden. Der Senat betont, Punktesysteme seien „übliche Methoden“, damit Kinder eine „eigene Motivation“ entwickeln, um „problematisches Verhalten zu überwinden“.

Kritiker Kunstreich nennt die Zahlen erschreckend. „Bei diesen schematischen Modellen wird das Kind nicht als eigene Persönlichkeit anerkannt“, sagt er. Gemeinsam mit dem Arbeitskreis kritische Sozialarbeit will er die Einrichtungen untersuchen. „Oft ist die Realität ja schlimmer.“

Die Hamburger Abgeordnete Boeddinghaus fordert insgesamt eine Neuaufstellung der Jugendhilfe, dafür solle eine Enquetekommission Vorschläge entwickeln. Sie lädt für den heutigen Donnerstag Abend zu einer Fachveranstaltung im Hamburger Rathaus ein. „Die Hilfen müssen viel früher einsetzen, damit sie Heime überflüssig machen“, sagt Boeddinghaus. Bis es so weit sei, müsse gesichert werden, dass die Kinderrechte gewahrt würden. „Dass Kinder sich zum Beispiel ihre Kleidung durch Wohlverhalten verdienen müssen, gehört nicht dazu.“

Heime anonymisiert

Etliche Heime hatten offenbar Angst vor dieser Debatte. So sind in der Antwort auf die Linken-Anfrage bei 21 Einrichtungen aus Schleswig-Holstein die Namen durch „xxxx“ ersetzt – vermutlich unter Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse. Für Wolfgang Hammer ist das nicht hinnehmbar: Vom Staat finanzierte Einrichtungen in so einem wichtigen Bereich „sollten dem Parlament Auskunft geben wollen“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • "Vom Staat finanzierte Einrichtungen in so einem wichtigen Bereich „sollten dem Parlament Auskunft geben wollen“." Das hiesse im Umkehrschluss, dass private Einrichtungen nicht auskunftspflichtig wären.

     

    Hier geht es doch um das Kindswohl, da kann es keine Intransparenz geben. Wie kann es sein, dass Kinder in letzter Instanz aufgrund der Kindswohlgefährdung aus der Familie genommen werden können, aber der gleiche Schutz für sie nach der Herausnahme für die Kinder/Jungendlichen nicht mehr gilt?

    • @Lesebrille:

      „Ich habe noch nie ein Kind erlebt, dass die auswärtige Unterbringung nicht als Bestrafung erlebt“, sagt der Sozialforscher, der einige Jahre in der Jugendverwaltung gearbeitet hat.

       

      So hat er das hoffentlich nicht gesagt! "Das" bitte nur mit einem "s"! ;)