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Jürgen Gottschlich über den EU-Fortschrittsbericht TürkeiBald flüchten die Demokraten

Am Dienstag hat die EU Kommission ihren jährlichen Fortschrittsbericht zur Türkei veröffentlicht und stellt darin zu Recht fest: Es gibt keinen Fortschritt. Im Gegenteil, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind eher auf dem Rückmarsch. Zieht man die diplomatischen Formeln ab, ist klar, dass die EU ihre Werte von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei in hohem Maße als gefährdet sieht. Das ist eine völlig zutreffende Beschreibung der gegenwärtigen Situation.

Doch der eigentliche Skandal ist: Keinen der verantwortlichen EU-Politiker stört das. Anstatt die Wähler vorher darüber zu informieren, wie ihre bisherige Regierung mit den wichtigsten Werten einer freiheitlichen Demokratie aus Sicht Brüssels umgeht, wurde der Bericht zurückgehalten, bis die seit Jahrzehnten wichtigste Wahl in der Türkei vorüber war. Denn der Bericht hätte ja nur die Opposition bestätigt, die der Regierung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Missbrauch der Macht seit Jahren vorwirft.

Das Paradoxe an der derzeitigen Situation ist, dass man just zu einem Zeitpunkt, da die Türkei von der EU so weit entfernt ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die Beitrittsgespräche wieder intensivieren will; und zwar möglichst mit einer Regierung Erdoğan, weil die allein für Stabilität sorgen könne.

Seit einigen Monaten schon schert sich in Berlin und Brüssel niemand mehr um den eigenen Fortschrittsbericht: Was allein zählt, ist, dass die Türkei potenziell dazu in der Lage ist, den Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Europa zu stoppen. Ob die türkische Demokratie dabei gerade von der Regierung zerstört wird, ist egal; dass die EU den türkischen Demokraten mit ihrem Verhalten total in den Rücken fällt, auch. Im Ergebnis werden zusätzlich zu den syrischen Flüchtlingen wohl bald auch wieder türkische Demokraten vor Europas Türen stehen.

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