: Nichts ist gut in Moabit
LAGESO „Menschenunwürdig und kindeswohlgefährdend“: Die Sozialstadträtin des Bezirks Mitte prangert in einem Schreiben die Verhältnisse vor dem Lageso an – und setzt Sozialsenator Mario Czaja eine Frist
von Nina Apin
Mittes Jugendstadträtin Sabine Smentek (SPD) macht Sozialsenator Mario Czaja (CDU) für menschenunwürdige Verhältnisse am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) verantwortlich. In einem Brief vom Mittwoch, der der taz vorliegt, greift sie Czaja scharf an. Die Bedingungen, unter denen Geflüchtete auf ihre Registrierung warten, seien „kindeswohlgefährdend“ und „menschenunwürdig“. Dem Senator wirft sie vor, Bedenken des Jugendamts ignoriert zu haben – und sie setzt ihm eine Frist wie einem unwilligen Klienten: „Nach dem 26.10.2015 wird das Jugendamt Mitte die Umsetzung der Maßnahmen bei einem erneuten Vororttermin kontrollieren.“
Das Schreiben sei eine Aufforderung an Czaja, sich an geltendes Recht zu halten, erklärte Smentek der taz auf Anfrage. „In der Turmstraße sehe ich die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention nicht gewährleistet.“
Bereits Anfang August besichtigten MitarbeiterInnen des Jugendamts erstmals das Lageso-Gelände. Dort stellten sie fest, dass Schwangere, Babys und Kleinkinder sich stunden- oder tagelang im Freien aufhalten mussten, dass es kaum Aufenthaltsräume für Familien gab oder Eltern diese nicht nutzten, weil sie sonst Gefahr liefen, den Aufruf ihrer Wartenummer zu verpassen. Bei einer zweiten Begehung am 13. Oktober waren erneut MitarbeiterInnen des Jugendamts vor Ort und stellten fest, dass die Missstände nicht behoben wurden.
Mehr noch: Smentek, die im Brief detailliert die Begehung schildert, zeichnet nach, wie Lageso-Mitarbeiter versucht hätten, die Zustände zu vertuschen: Sie hätten versichert, dass morgens alle Frauen mit Kindern aus der Warteschlange gebracht und vorrangig eingelassen würden. „Die aktuelle Situation gegen 10 Uhr entsprach nicht den gemachten Aussagen“, stellt Smentek fest: Schwangere, Kinder und Babys hätten im ungeheizten Zelt ohne Bodenplatten gewartet. „Trotz mehrmaligem Nachfragen wurde bis zu unserem Verlassen des Geländes um 12.30 Uhr keine Änderung der Situation vorgenommen. Eine Aufnahme der Frauen und Kinder ins Gebäude wurde mit Hinweis, dass dies nicht möglich sei‘, abgelehnt.“
Czaja soll nun bis zum 26. 10. beheizte Familienwartebereiche mit eigenen Toiletten, Babynahrung und Spielmöglichkeiten bereitstellen. Dazu neues Hilfspersonal, das die Wartenden über Abläufe, Wartezeiten und Angebote auf dem Gelände informiere. „Das ist logistisch machbar“, so Smentek zur taz, „und es muss jetzt passieren – es geht um Tage.“
Eine neue Notunterkunft für 590 Flüchtlinge wurde am Freitag am Groß-Berliner Damm in Treptow-Köpenick eröffnet. Das Bundesinnenministerium stellte die Immobilie zur Verfügung.
Laut Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) denken mehrere Berliner Bezirke darüber nach, leer stehende Wohnungen und Gewerbeimmobilien zu beschlagnahmen. Entsprechende Anträge seien bereits in den Kommunalparlamenten von Friedrichshain-Kreuzberg und auch Mitte eingebracht und diskutiert worden.
Demo am Samstag
Auch nach der Inbetriebnahme des neuen Registrierungszentrums in der Bundesallee warteten am Donnerstag vor dem Lageso noch immer viele Menschen ohne Essen, Bleibe und medizinische Versorgung. Die Freiwilligeninitiative „Moabit hilft“, die seit Monaten dort humanitäre Hilfe leistet, berichtet Drastisches: von Kleinkindern, die durch tagelanges Stehen entkräftet zusammenbrechen, von Herzkranken, die neun Tage auf eine Härtefallregelung warten. Die Organisation ruft deshalb für Samstag zu einer Demonstration vor dem Roten Rathaus auf. Motto: „Es reicht!“
Der Sozialsenator war am Freitag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen