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Die Burg der Armen

Aufwertung Mehr als ein Jahrhundert lang bot die Weddinger Wiesenburg Obdachlosen ein Dach über dem Kopf und Künstlern wie Schülern einen Ort für Kreativität. Seit November 2014 gehört das Gelände der Degewo. Seither steht der Kulturbetrieb still

von Matthias Bolsinger

Hier muss es oft laut gewesen sein. Die Tausende Obdachlosen, die Ende des 19. Jahrhunderts hier wohnten. Die Bomben, die im Zweiten Weltkrieg hier fielen. Die Musik, die die Ruine bei Konzerten erfüllte. Jetzt ist es still geworden in der Wiesenburg, im Norden Berlins, am Ufer der Panke.

Nur der Lärm der vorbeiratternden Züge hallt noch zwischen den roten Backsteinwänden. Von der Straße aus sieht das Gebäude aus wie eine Fa­brik. Von Nahem erkennt man: Es fehlen Dächer, Schutt liegt in so mancher Ecke. Pflanzen klettern an den Wänden empor. Ein Gelände, wie aus der Zeit gefallen. Eines, über das schon viel geschrieben wurde und von dem trotzdem noch nicht alles erzählt ist.

Vieles könnte noch geschehen – wären da diese Zäune nicht. Das Geschehen rund um die Wiesenburg ist ins Stocken geraten. War’s das? Oder geht es weiter? Und falls ja – wie?

All diese Fragen treiben Anna-Christin Dumkow seit Langem um. Genauer gesagt. seit November 2014, seit die kommunale Wohnungsgesellschaft Degewo das rund 12.500 Quadratmeter große Areal besitzt. Anfang April sperrte die Degewo weite Teile des Geländes ab. Ein baustatistisches Gutachten hatte ergeben, dass in einigen Bereichen der Wiesenburg Einsturzgefahr besteht.

Stillstand auf dem Gelände

Die Räume, die Dumkow jahrelang für Künstler sowie für SchülerInnen aus dem Quartier bereitgestellt hatte, sind seither nicht mehr begehbar. Das kulturelle Leben der Wiesenburg ist zum Erliegen gekommen. Der Dreh eines Kinofilms, ein mehrtägiges Filmfestival, Gartenfeste für Schüler, Ausstellungen und Konzerte – alles musste abgesagt werden. Die meisten Ateliers und ein Tanzstudio sind weiterhin begehbar. Nicht aber der Garten und große Teile der Ruine. Das sind mehr als zwei Drittel des Areals. „Erst wurde den Kindern und Künstlern die Wiesenburg genommen“, sagt Dumkow enttäuscht, „und jetzt geht nichts voran.“

Die 76-Jährige, wohnt hier seit Jahrzehnten. Tiefe Stimme, wacher Blick, großes Herz – mit nobler Note. Ihre Familie hat das ehemalige Verwaltungsgebäude auf dem Gelände mit eigener Hand renoviert. Sie hat den Ort geprägt wie vielleicht niemand anderes. Jetzt fühlt Dumkow sich ohnmächtig. Man merkt, dass ihr etwas fehlt. Seit der Sperrung vor mehr als vier Monaten ist den „Wiesenburgern“, Familie Dumkow und den gut 20 aktiven Künstlern, ihre Mission abhandengekommen: für den Kiez da zu sein.

Dabei steckt genau das in der DNA des Gebäudes. Es war schon immer eine Antwort auf die soziale Frage. 1895 wurde es vom Berliner Asyl-Verein erbaut. Paul Singer, Mitbegründer der SPD, der Mediziner Rudolf Virchow, der Unternehmer August Borsig und andere hatten den Verein gegründet. Berlin war Europas größte Industriestadt. Obdachlose, Wanderarbeiter, Erntehelfer, Dienstmädchen fanden in dem Asylneubau in der Wiesenstraße, mitten im „roten Wedding“, einen Ort zum Schlafen, Essen und Waschen. Hier waren sie geschützt – und so nannten sie das Asyl „Wiesenburg“.

Die Wiesenburg

Das Obdachlosenasyl an der Wiesenstraße war das landesweit größte: Bis zu 1.100 Menschen konnten dort bis zu viermal im Monat übernachten und bekamen ein Frühstück und eine warme Mahlzeit am Abend. Die 1895 erbaute Wiesenburg war wohl auch das fortschrittlichste Asyl seiner Zeit: eigene Stromversorgung, eigener Brunnen – das Gebäude war autark. Religion spielte dort gar keine Rolle.

Besonders progressiv im ­seuchenanfälligen Berlin war die Wiesenburg auch in Sachen Hygiene. Die Wäsche der Gäste wurde desinfiziert, es gab moderne Betten, man konnte duschen und baden. (mat)

Während der Weimarer Republik hielten sich unter anderen Rosa Luxemburg, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille und ­Erich Kästner hier auf – teils aus Not, teils zu Recherchezwecken. 1926 wurde das Gelände an die Jüdische Gemeinde verpachtet, 1935 rissen es die Nationalsozialisten an sich, eine Fahnendruckerei zog ein. Brandbomben zerstörten in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs die Gebäude.

Anna-Christin Dumkow ist die Urenkelin eines Vereins­gründers. Sie wollte die Tradition der Wiesenburg wieder aufleben lassen. 1961 re­aktivierte die damals 22-Jährige den Verein, sammelte Kleidung für Bedürftige und bot Menschen ein Obdach, die an die Tür der Wiesenburg klopften.

Nach und nach öffnete Dumkow die Wiesenburg auch für Künstler, Handwerker und Filmemacher. Volker Schlöndorff drehte dort Szenen der Reichs­pogromnacht für die „Blechtrommel“, Rainer Werner Fassbinder nutzte die Kulisse für „Lili Marleen“ und „Ein Mann will nach oben“. Bis heute ist das Gelände an der Panke Arbeitsplatz und Treffpunkt für ­Filmemacher, Tänzer und Maler.

Auch für Kinder und Jugendliche ist die Wiesenburg zugänglich. Im Jahr 1999 öffnete Familie Dumkow das Gelände für SchülerInnen aus den umliegenden Schulen, wie für die Humboldthain-Grundschule. Schulfeste fanden hier statt, Schüler durften in Zelten übernachten. Vor allem aber sollten sie lernen können. Regelmäßig kamen Klassen, um den ansässigen Imkern oder Kunsthandwerkern über die Schulter zu gucken. Die Wiesenburg, ein großes Klassenzimmer. „In gewisser Weise ist der Ort immer ein Asyl geblieben“, sagt Dumkow. „Heute eben für Kinder, Kreative und soziale Projekte.“

Das kommt an im Kiez. „Die Wiesenburg spielt hier eine große Rolle“, sagt Sükran ­Altunkaynak vom Quartiers­manage­ment Pankstraße. Die meis­ten Menschen im Quartier haben einen Migrationshintergrund. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10 Prozent, 41 Prozent der Bewohner beziehen Transferleistungen. Die Wiesenburg sei eine kulturelle Oase in einer vergleichsweise armen Gegend mit nur wenig Orten, von denen sich das Quartiersmanagement Impulse für die Kiezentwicklung erhofft. „Fragt man die Kiezbewohner, wem die Wiesenburg gehört, sagen sie: Uns!“, erzählt Altunkaynak. „Die Schulkinder empfinden sich dort als Hausherren.“

Schutz vor dem Verfall

Mit der Teilsperrung ist es damit erst einmal vorbei. Wie es weitergeht, ist unklar. Nach einem jahrzehntelangen Rechtsstreit zwischen den Dumkows und dem Land Berlin gehört das Gelände der Degewo. Das Wohnungsunternehmen selbst sieht sich als Retter der Wiesenburg. Die denkmalgeschützten Gebäude wolle man vor dem Verfall schützen. Außerdem wolle man die Nutzerinnen und Nutzer nicht vertreiben, teilte ein Sprecher im April mit, sondern mit ihnen ein Konzept entwickeln.

Doch das kann dauern. Erst gegen Ende des Jahres will die Degewo in einem Werkstattverfahren mit Architektur- und Planungsbüros ein Standortkonzept entwickeln. Das wird, so lässt Projektleiterin Cordula Fay durchblicken, sowohl Wohnungen als auch gewerbliche und gemeinschaftlichen Nutzungen einschließen. In welchem Umfang und in welcher Form, steht noch nicht fest. Zwar betont die Degewo, sie sei auf dem Gelände nicht auf Profit aus. Aber kann sich das Unternehmen ein Millionengrab leisten? Bislang bedeutet das Gelände für die Degewo nur eines: Ausgaben.

Die Wiesenburger sind daher skeptisch. Sie bangen um die Zukunft ihres Raumes. Umso mehr, als sie sich ausgeschlossen fühlen. „Der Dialog findet leider nur auf dem Papier statt“, beklagt Anna-Christin Dumkow. „Seit dem ersten offiziellen Treffen im Mai gab es keine ernsthaften Gespräche mehr“, erklärt Robert Bittner. Der Regisseur und Schauspieler lebt und arbeitet in der Wiesenburg. Mit anderen Künstlern hat er den Wiesenburg e. V. gegründet, der das Gelände und seine Menschen nach außen vertreten will. „Wir wollen gern zur Herstellung der Verkehrssicherheit für eine Zwischennutzung beitragen“, sagt er, „bisher wurden unsere Vorschläge dazu leider nur abgelehnt“.

Von den Wohnungsplänen der Degewo hält man in der Wiesenburg wenig. Man könne zwar verstehen, dass das Unternehmen die Kosten für die Instandsetzungsarbeiten wieder reinholen wolle – aber Wohnungen? „Wir würden die Wiesenburg lieber weiter für nachbarschaftliche und soziale Aktivitäten im Quartier öffnen“, sagt Bittner. Daher wolle man aktiv am Werkstattverfahren teilnehmen und seiner Stimme Gehör verschaffen. Lauter, aber „mit Contenance“, sagt Dumkow. Die Ruhe auf dem Gelände soll endlich ein Ende haben.

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