piwik no script img

Kommentar FlüchtlingspolitikÜberforderte Kommunen

Anja Maier
Kommentar von Anja Maier

Die Bundespolitik hat zu lange ignoriert, dass die Folgen der Kriege und Krisen auch etwas mit Deutschland zu tun haben.

Im bayerischen Deggendorf ruhen sich Neuangekommene auf Matten in einer Turnhalle aus. Foto: dpa

S ie „strömen“ herbei. So viele sind sie, dass das Land unter ihnen „ächzt“. Sie „schwemmen“ ins Land, sie „überrennen“ es. Schon bilden sie eine „Welle“. Die Politik reagiert auf sie mit Taskforces und „Rückführungszentren“.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Wortwahl in Bezug auf die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge offenbart die geradezu paranoide Angst des deutschen Bürgers und seiner politischen Vertreter vor dem Unbekannten. Dem nicht Geplanten. Denn derlei kennt man hier nicht.

Jedes Kreissportfest ist besser organisiert als jenes Desaster, das sich in diesen Wochen vor den Augen der interessierten Öffentlichkeit ereignet: Zeltstädte stehen in sengender Sonne, darin hausen Menschen ohne Privatsphäre bei minimaler hygienischer und medizinischer Versorgung, sie sind verdammt zum Warten. Auf dass die deutsche Bürokratie sich ihres Schicksals annehme.

Und diese Bürokratie scheitert gerade großflächig daran, Flüchtlinge angemessen unterzubringen. Aber was ist in der jetzigen Situation schon angemessen?

Der Winter kommt

Selbstverständlich wäre es für die meisten wünschenswert, wenn alles wie in den zurückliegenden Jahren klappen würde. Störungsfrei und unsichtbar. Die Ankömmlinge würden in Unterkünften dem öffentlichen Blick entzogen. Sie bezögen Zimmer statt Zelte. Sie benutzten Waschräume statt Duschcontainer. Sie kochten ihr Essen selbst, statt Kantinenessen aufgekellt zu bekommen. Sie redeten mit Sozialarbeitern, statt Nummern zu ziehen.

Aber so läuft es eben gerade nicht. Stattdessen sehen wir immer mehr Zeltstädte auf deutschen Kasernenhöfen entstehen. Die Angst, dass sie zu Dauereinrichtungen werden könnten, scheint nicht unberechtigt. 45.000 Erstaufnahmeplätze gibt es derzeit im gesamten Bundesgebiet. Aber allein im Juni wurden 33.000 Anträge auf Asyl gestellt. Die Zahlen des Bundesinnenministers lassen Schlimmes für den bevorstehenden Herbst, gar den Winter befürchten.

Dennoch ist es wohlfeil, jetzt mit dem Finger auf die Kreise und Kommunen zu zeigen, ihnen gar die Absicht zu unterstellen, Flüchtlinge planvoll menschenunwürdig zu behandeln. Quasi eine abschreckende Bilderpolitik zu betreiben. Wer so denkt, glaubt offenbar an einen omnipotenten Staat, der in der Hinterhand eine Art Reserve-Infrastruktur bereithält. Einen Staat mithin, der alles regelt.

Fieberhafte Arbeit

Dabei zeigen die Missstände bei der Unterbringung der Flüchtlinge wieder einmal deutlich, was Fremdenfeinde so gern anzweifeln: Deutschland hat ein Fachkräfteproblem. Dieses wirtschaftlich starke Land fährt seine Verwaltungen seit Langem auf Verschleiß, das wird dieser Tage offenbar.

Den Machern vor Ort Kaltherzigkeit zu unterstellen stärkt nur die Argumentation jener, die meinen, den Flüchtlingen mit den Smartphones gehe es hier eh schon viel zu gut. In den Stadt- und Kreisverwaltungen arbeiten Menschen fieberhaft für Menschen. Dass sie jetzt den Mangel zu verwalten haben, ist nicht ihre Schuld.

Eher schon muss man der Bundespolitik vorhalten, viel zu lange ignoriert zu haben, dass Kriege und Krisen auch etwas mit diesem Land zu tun haben werden. Dass deutscher Waffenhandel und globale Rohstoffausbeutung durch deutsche Unternehmen das Leben von Menschen vor Ort konkret betreffen.

Dass die Opfer globaler Auseinandersetzungen selbstverständlich auch bis nach Deutschland kommen, weiß man in Berlin seit Langem. Sich auf viel mehr Flüchtlinge, auf Menschen in Not logistisch und haushalterisch vorzubereiten, hätte jedoch das Bekenntnis vorausgesetzt, dass dieses Land auch bereit ist, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen.

Aber das hätte ja zur Folge, dass wir unser Leben ändern müssten. Ruhe im Lande – diese innenpolitische Denkfigur scheitert gerade sichtbar und spürbar. Ausbaden müssen das die Flüchtlinge.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Anja Maier
Korrespondentin Parlamentsbüro
1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.
Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • Was wir jetzt gerade erleben, ist eine historische Zäsur. Wir erleben gerade den Beginn einer neuen Völkerwanderung. Die Klimaflüchtlinge kommen nämlich erst noch. Die letzte große Klimaflüchtlingswelle hat das Imperium Romanum untergepflügt.

  • Vor zwei Jahren sind 90.000 Flüchtlinge gekommen. Letztes Jahr 200.000. Dieses Jahr rechnet man mit 400.000. Nächstes und übernächstes Jahr werden es nicht weniger werden.

     

    Und die, die dieses Jahr ein Bleiberecht kriegen, werden nächstes Jahr im Zuge der Familienzusammenführung ihre Leute nachholen. Die Leute, die nächstes Jahr anerkannt werden als Asylanten oder Flüchtlinge, werden übernächstes Jahr ihre Leute nachholen. Wir reden von Millionen. Und das ist kein Pegida-Gequatsche, das ist eine ernste Herausforderung.

     

    Die Flüchtlingsfrage wird zur ganz zentralen innenpolitischen Frage in den nächsten Jahren werden. Wenn wir hier nicht schleunigst das Ruder herumwerfen und in andere Fahrwasser steuern, dann werden die Rechten immer mehr die öffentliche Meinung bestimmen. Da müssen sich dringend Leute, Aktivisten, Journalisten massiv einarbeiten. Die taz braucht ein neues Schwerpunkt-Ressort. Es ist unübersehrbar, daß viele Kommunen heillos überfordert sind; es ist auch unübersehbar geworden, daß die ganze Grundkonstruktion, Stichwort Königssteiner Schlüssel, Rott ist. Es droht die Banlieisierung der Ballungszentren.

     

    Auf der anderen Seite sind die Flüchtlinge eine Riesenchance. Denn es sind die Härtesten und Zähesten, die sich bis zu uns durchschlagen. Leute, mit denen man was anfangen kann. Im Moment aber werden die keine Perspektive haben außer Sozialhilfe, Schwarzarbeit, Kriminalität.

    • @Seeräuberjens:

      "Wir reden von Millionen."

      > Wohl zu viel sarrazinsche Paranoia aufgesogen?

       

      "Auf der anderen Seite sind die Flüchtlinge eine Riesenchance. Denn es sind die Härtesten und Zähesten, die sich bis zu uns durchschlagen. Leute, mit denen man was anfangen kann."

      > Es geht darum, Menschen zu retten, um nichts anderes. Oder überlegen Sie bei einem Autounfall auch erst, mit welchem der Verletzten "man etwas anfangen kann", ehe Sie Hilfe leisten?

       

      Unerträglicher Zynismus.

  • Wir haben nun die Folgen zu tragen, die wir uns in Jahrzehnten aggressiver Politik "verdient" haben.

    Akezptieren wir das Unvermeidliche, selbst zu Verantwortende für den Moment und beginnen eine andere Politk, beginnen wir bei der Deutschen Bank, bei Heckler und Koch, Krauss Maffei und allen die bislang Profiteuere der Ausbeutung .....

  • Die Rechnung wird dafür präsentiert, dass wir den "Arabischen Frühling" ebenso verraten haben wie den "Prager Frühling",

    Das Kungeln mit Diktatoren auf Kosten vor allem der arabisch/afrikanischen Jugend wird jetzt bestraft. Schließlich haben gerade wir Deutschen immer die besten Geschäfte mit den arabischen Diktatoren gemacht.

    Kommt die Freiheit nicht zu den Jungen Leuten, kommen die Jungen Leute zu uns! Ich würde das auch an deren Stelle machen.

  • Die Ursachen der Flucht bekämpfen? Die Irakkriege abzublasen ist ein bißchen spät, oder?

     

    Die Lage ist, wie sie ist. Dieses Jahr kommen 400.000 Flüchtlinge. Nächstes Jahr werden nicht weniger kommen. Und die von diesem Jahr, die anerkannt sind, werden ihre zurückgebliebenen Verwandten nachholen. Das sind dann noch viel mehr. Und die Kommunen wursteln sich von Ausnahmezustand durch zu Ausnahmezustand, anstatt daß die Politik die ganze Flüchtlingspolitik von Grund auf neu zu durchdenkt, Stichwort Königssteiner Schlüssel, der völlig daneben ist.

     

    Der Innenminister muß handeln, jetzt, sofort, es brennt.

  • richtiger wäre es sichere Zonen in ihren Heimatregionen zu schaffen.

    vielleicht sollte der Westen auch mal aufhören Staaten wegzubomben

  • Lieber Peter A.Weber,

    danke, du hast meine Gedanken in Worte gefasst

  • Deutlich und wahr, Sie sprechen mir aus der Seele!

  • "Die Bundespolitik hat zu lange ignoriert, dass die Folgen der Kriege und Krisen auch etwas mit Deutschland zu tun haben." - Nicht nur die Folgen, sondern auch die Kriege und Krisen selbst?

    • @reblek:

      Nimm nur mal die Irakkriege.

    • @reblek:

      Sehr richtig. Ursachen UND Folgen

  • Wer sich bei uns arrogant in seinem Lehnstuhl zurücklehnt und glaubt, er würde in einem Land der Seligen mit wohlverdientem Wohlstand lebe und meint, er könne den Flüchtlingsstrom, der unerbittlich anwächst, ignorieren und sich zum Richter über die Schicksale von Millionen notleidender und verfolgter Menschen aufspielen, der gehört in die Hölle - sofern es sie wirklich gibt!

     

    Man braucht sich doch nur die täglichen Nachrichten anzusehen und sich zu verinnerlichen, wie im Vergleich zu Deutschland winzige Länder wie der Libanon oder Jordanien Millionen an Flüchtlingen aufnehmen - und das bei einem in Hinsicht zu Deutschland unterproportionalem Wohlstand und Wirtschaftsleistung, dann sollten wir uns wirklich bis in den Boden schämen!

     

    Wir mit unserem christlich-abendländischem arrogantem Weltbild, das die Ursache für viele Miseren in der gesamten Welt ist, maßen uns an, über die Opfer unserer Wirtschaftsgesellschaft und imperialen Politik abschätzig zu urteilen. Schande über uns! Mit Kultur hat dies nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit Niederträchtigkeit!

  • "Dass deutscher Waffenhandel und globale Rohstoffausbeutung durch deutsche Unternehmen das Leben von Menschen vor Ort konkret betreffen."

     

    Gibt es dazu auch Beweise ? Es würde mich echt interessieren zu erfahren, welches fremde Land unsere Regierung fluchtreif ausbeutet oder durch Handel destabilisiert.

    • @Jom:

      Vielleicht machen Sie einfach mal die Augen auf und beschäftigen sich mit Geschichte auch weiter als dem herunterbeten deutscher Könige und Kaiser oder sehen sich die andere Seite der Entdeckungen Columbus' an.

      • @solde:

        Die Augen aufmachen ist etwas mager für einen Beweis. Sie haben als auch keine ?

    • @Jom:

      Sie tut es gewiss nicht allein.

      Wenn Sie noch Beweise dafür brauchen, wie bspw. Billiggeflügel oder "Kleiderspenden" den afrikan. Binnenmarkt fluten oder glauben, Waffenlieferungen bleiben in jedem Fall im "sicheren" Importland, dann sind Sie wohl gerade erst vom Mond gefallen.

      Die Bundesregierung ist ein Rad in diesem Niedergangsgetriebe.