Frühkindliche Erziehung: Begrenzte Elternmacht
Forscher haben keine Beweise dafür gefunden, dass elterliche Verhaltensweisen in den ersten drei Jahren die Gehirnentwicklung fördern.
Kinder gelten als reine, unschuldige und lernwillige Geschöpfe, die nur durch die offenbar verqueren Erziehungsweisen einiger Eltern zu zappeligen Schulkindern, komasaufenden Jugendlichen oder depressiven Hartz-IV-Empfängern werden. Und zwar dann, wenn Eltern ihren Nachwuchs eben nicht bereits im Babybauch mit Mozart beschallen, wenn sie nicht stillen, zu wenig vorlesen, nicht ständig mit dem Kind kommunizieren oder Körperkontakt halten, keine PEKiP- oder musikalische Früherziehungskurse besuchen.
Schließlich werde das kindliche Gehirn in den ersten drei Lebensjahren des Kindes irreversibel geformt, so lauten die Botschaften aus der Hirnforschung. Fehler, die hier gemacht werden, seien nicht mehr auszubügeln – und das schade nicht nur den Kindern selbst, sondern obendrein der Volkswirtschaft.
Spezielle Ratgeber warten schon mit wissenschaftlich basierten Erziehungstipps auf, etwa solle man Babys permanent mit sich herumtragen, auf jedes Signal sofort reagieren oder achtsam mit ihnen kommunizieren.
Wissenschaftlich gesehen sind die Beweise für das sogenannte brain-based parenting jedoch mager, haben britische Wissenschaftlerinnen um Jan Macvarish, Soziologin an der University of Kent, aufgedeckt. Dafür analysierten sie die bis dato vorhandene Studienlage. Demnach wird etwa Müttern gesagt, dass Stress in der Schwangerschaft oder auch postnatale Depressionen dem Gehirn des Babys schadeten.
„Diese fragwürdige Information wird jedoch kaum Stress oder Depressionen verhindern, sondern vielmehr die Ängste der Eltern schüren“, sagt Macvarish. Eltern werden auch dazu angehalten, ihre Kinder zu umarmen und zu knuddeln, mit ihnen zu reden und zu singen, um die Gehirnentwicklung zu fördern.
„Aber diese Dinge tun Eltern sowieso und haben es immer getan, einfach weil sie ihre Babys gern haben.“ Ständiges Schuldzuweisen unterminiere jedoch laut den Autorinnen das elterliche Selbstbewusstsein. „Und das verursacht Stress und Depression, was wiederum nicht förderlich für die Eltern-Kind-Beziehung ist“, so Macvarish.
Prägende Erfahrungen
Fest steht jedoch, dass frühe Erfahrungen sehr wohl prägen können. „Misshandlungen, Missbrauch oder auch Vernachlässigung setzen der Hirnentwicklung und damit auch der kindlichen Seele erheblich zu“, stellt Sabina Pauen, Entwicklungspsychologin an der Universität Heidelberg, klar. Betroffene Personen leiden dann nicht nur häufiger unter Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen, sondern können auch somatische Symptome entwickeln.
So hat etwa eine US-amerikanische Studie mit 34.000 Teilnehmern aufgedeckt, dass Schläge krank machen. Je öfter die Eltern handgreiflich wurden, desto höher war das Risiko der Kinder, im Erwachsenenalter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arthritis oder Adipositas zu leiden.
Das Bucharest Early Intervention Project, eine Langzeitstudie von Charles A. Nelson, Psychologe an der Harvard University, mit rumänischen Waisenkindern zeigt, dass psychisch vernachlässigte Kinder deutlich weniger IQ-Punkte und ein verkümmertes Sprachvermögen aufweisen. Vermutlich stecken epigenetische Prozesse hinter diesen weitreichenden Folgen, weil Gen-Schalter besonders im Stresssystem des Kindes verstellt werden.
Allerdings weiß man aus der sogenannten Resilienzforschung, dass rund ein Drittel der Kinder, die unter widrigen Bedingungen aufwachsen, durchaus zu glücklichen Erwachsenen werden, und zwar dann, wenn die Kinder andere positive Beziehungserfahrungen etwa mit Großeltern oder Krippenerzieherinnen machen – in der rumänischen Studie erholten sich beispielsweise Waisenkinder, die man in Pflegefamilien unterbringen konnte, sehr gut.
Eltern unter Druck
Zudem können frühkindliche Erfahrungen im Negativen wie im Positiven auch nach dem dritten Geburtstag immer wieder überschrieben werden. „Die ersten drei Jahre sind nicht so deterministisch, wie das häufig suggeriert wird“, sagt Macvarish.
Doch mittlerweile geraten auch Eltern unter Druck, die sich schlichtweg nicht ständig um die Optimierung ihrer Kinder bemühen. „Die Gefahr besteht tatsächlich, dass man zu sehr auf die Erkenntnisse der Hirnforschung schaut und dabei das Elternsein von Herzen vergisst“, sagt die Säuglingsforscherin Pauen und teilt in diesem Punkt die Sorge der britischen Wissenschaftlerinnen.
„Es ist gruselig, wenn Eltern nur noch darauf konzentriert sind, dass ihr Kind ein Einstein wird, und sie es darum von Babykurs zu Babykurs schicken.“
Sie vermutet, dass ein Übermaß an Aufmerksamkeit durchaus negative Auswirkungen haben kann. „Wenn Eltern ständig um ihr Kind herumspringen und bei jedem Pieps sofort reagieren, hat es keine Chance zu lernen, wie es sich selbst beruhigen oder beschäftigen kann.“
Eine Kultur der Überwachung
Langeweile und Frustration können diese Kinder dann kaum aushalten – sie erscheinen heute vermehrt in der psychologischen Praxis. Macvarish sieht auch noch eine andere schädliche Folge: „Die Betonung auf die elterliche Intervention produziert eine spezielle Idee des Kindes, das gefährdet ist. Und damit wird eine Kultur der Überwachung des familiären Lebens als gerechtfertigt angesehen“.
Glücklicherweise ist der Umgang der Eltern mit ihren Zöglingen nur zu einem gewissen Teil vom Zeitgeist abhängig. Eine wesentlich größere Rolle spielen die eigenen Erziehungserfahrungen der Eltern, die Persönlichkeit der Eltern, aber auch der Charakter des Kindes und die Gene. Darauf weisen Wissenschaftler der University of Michigan in einer Studie vom vergangenen Jahr hin.
Die Psychologin Alexandra Burt hat 56 Studien mit 20.000 Familien aus Japan, Australien und USA statistisch ausgewertet und schließt daraus: 23 bis 40 Prozent der elterlichen Verhaltensweisen den Kindern gegenüber sind genetisch bedingt. Wie Eltern mit ihrem Nachwuchs umgehen, wird aber auch durch das kindliche Verhalten, durch sein Temperament verändert. „Erziehung ist also keineswegs ein Top-down-Prozess“, sagt Burt.
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