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TATORT Die Schüler nannten ihn „Chrille“. Christian Spoden kümmerte sich als Sozialpädagoge im linksalternativen Kreuzberg der Achtziger um sexuell missbrauchte Jungen. Viele Opfer schweigen bis heute. Erkundung eines JagdreviersSie schlichen sich in die Familien

Berlin-Kreuzberg, 1982. Bewohner der Cuvrystraße haben Kindern mit Wanne und Gartenschlauch eine Badeanstalt gebaut Foto: Paul Glaser

AUS BERLIN NINA APIN UND ASTRID GEISLER

Eine Kinderzeichnung, Kugelschreiber und Filzstift, schwarz und blau auf weißem Papier. Sie zeigt eine kurze Treppe nach unten. Drei Stufen führen in einen Kellerraum mit Fernseher, Flipper und Bar. Hinter einem Vorhang ein Séparee mit Sofa. Eine Innenansicht des Falckensteinkellers, 1986 im Souterrain eines rußigen Altbaus in der Kreuzberger Falckensteinstraße eröffnet. In diesem Westberliner Jugend­treff missbrauchten pädosexuelle Männer aus dem grün-alternativen Milieu jahrelang Schüler, die nach dem Unterricht zu ihnen kamen. Das Haus wurde abgerissen, der Tatort vergessen. Die Nachbarschaft verwandelte sich vom ärmlichen Arbeiterkiez in ein Viertel, das Touristen gerne besuchen, weil es hip ist, multikulti, voller Restaurants, Kneipen, Clubs.

Fast 30 Jahre hat Christian Spoden die Kinderzeichnung in einem schwarzen Leitz-Ordner aufbewahrt. Auch ein handskizziertes Schaubild hat er darin abgeheftet: Täternamen, Kindernamen, Kreuzberger Tatorte – mit Kugelschreiber auf DIN-A4-Papier gezeichnet. Es gibt Knotenpunkte in dem Netzwerk, das sind die pädokriminellen Täter. Dazwischen, mit Linien verbunden, ein dichtes Geflecht aus Kindernamen.

taz.am wochende: Herr Spoden, was war Kreuzberg in den achtziger Jahren?

Christian Spoden: Ein Jagdrevier. Es lockte sogar Pädophile aus dem Ausland an. Die Täter nutzten die Naivität und den Zeitgeist aus.

Spoden zeichnete die Skizze 1987 mit einer Kollegin. Sie arbeitete zu der Zeit als Sozialpädagogin an an einer Kreuzberger Oberschule in der Nähe des Falckensteinkellers, er als Einzelfallhelfer. Ihr Auftrag: Sie sollten sexuell missbrauchten Schülern im Kiez helfen. Mit dem Organigramm der Opfer und Täter versuchten sie, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Spoden gewährt nur flüchtige Blicke auf seine Unterlagen. Die Papiere enthalten Dutzende Namen sexuell missbrauchter Kinder. Er hat ihnen damals versprochen, sie nicht zu verraten.

Das Bezirksamt Berlin-Kreuzberg holte Sie 1987 an die Kreuzberger „Kiezschule“, weil es dort Schwierigkeiten mit sexuell missbrauchten Schülern gab. Wie sind diese Probleme bekannt geworden?

Christian Spoden: An der Schule gab es damals eine Mischung aus Gerüchten, Halbwissen und Tatsachen. Einige Jungen verhielten sich so auffällig, dass eigentlich gar kein Unterricht mehr möglich war. Sehr sexualisierte Sprache – mit Betonung auf „sehr“. Diese Jungs wurden selbst übergriffig, überzogen Lehrerinnen und Lehrer mit sexuellen Beschimpfungen. Auf einer Klassenfahrt schlossen sie sich beim Zwischenstopp an der Autobahntankstelle mit Pornoheften auf dem Klo ein: zum Wettwichsen. Den Jungen fiel es natürlich sehr schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie waren verängstigt und fürchteten sich vor Stigmatisierungen. Eine Gruppe überfiel sogar Schwulentreffpunkte in Kreuzberg.

Warum das?

Für die Kinder gab es keine Unterschiede zwischen Schwulen und Pädosexuellen. Das waren für die alles einfach Schwule. Auch gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen pädophilen Tätern und Kindern liefen bei den Schülern damals unter „schwul“. Die fragten sich also: Wenn mein Penis beim Anfassen erigiert – bin ich dann auch schwul? Und „schwul“ lief damals ganz eng zusammen mit der Angst vor Aids. Einige Schüler ließen ihre Ängste und ihre Wut dann stellvertretend an Schwulen aus, die gar nichts dafür konnten.

Wie sollten Sie diesen Schülern helfen?

Ich bekam eine Namensliste der Schüler und sprach Kinder an, die amtsbekannt waren. Natürlich konnte ich nicht „Büro für sexuell missbrauchte Jungen“ über meine Bürotür in der Schule schreiben, das hätte die Kinder sofort stigmatisiert. Deshalb hieß es einfach: Der „Chrille“ ist für die Jungs da.

„Chrille“ – diesen Spitznamen dachten sich die Kinder damals für ihren Sozialarbeiter aus. Christian Spoden lächelt bei der Erinnerung daran. Seine Kontakte zu den Schülern sind längst abgerissen.

Spoden, heute 57 Jahre alt, leitet eine Beratungsstelle für Sexualstraftäter im Bremer Bahnhofsviertel. Ein großer Mann mit weichen Zügen. Dunkelbraune Strickjacke, schlichte Metallbrille. Keiner, der sich mit Äußerlichkeiten aufhält.

Er gehörte zu den ersten in Berlin, die sich hauptberuflich um sexuell missbrauchte Jungen kümmerten. Anfang der achtziger Jahre hatte Spoden in den USA eine Zusatzausbildung als Spieltherapeut für sexuell missbrauchte Kinder absolviert. Das war damals neu in Deutschland. Das Kreuzberger Jugendamt wusste zu dieser Zeit offenbar schon, dass in dem Alternativbezirk Kinder systematisch missbraucht wurden. Auch das Polizeipräsidium ermittelte, gegen Täter aus dem pädokriminellen Netzwerk liefen Gerichtsverfahren.

Können Sie einschätzen, wie viele Kinder damals in Kreuzberg sexuell missbraucht wurden?

Christian Spoden: Die genaue Zahl lässt sich natürlich nicht benennen. Aber ich weiß aus meiner Arbeit, dass rund 30 Kinder von der Kiezschule, mehrheitlich Jungen, aber auch einige Mädchen, sexuell missbraucht worden sind. Und ich spreche hier nicht von sexueller Gewalt in den Familien, sondern nur von diesem pädokriminellen Netzwerk in Kreuzberg. Es gab dort wohl an die zehn Intensivtäter damals. Ich bekam mit, wie die sich gegenseitig die Jungen abjagten.

Am letzten Haus der Falckensteinstraße endete damals nicht nur SO 36, dieses nach dem alten Postzustellbezirk „Süd-Ost 36“ benannte Viertel in Kreuzberg. In Sichtweite am Spree­ufer verlief die Grenze zur DDR. Der Kiez lag, von der Welt abgeschieden, im toten Winkel hinter der Berliner Mauer. Verfallene Gebäude säumten die Straßen, rußige Fassaden, aschgrau vom Qualm der Öfen, mit denen die meisten Kreuzberger Wohnungen beheizt wurden. SO 36 galt als Absturzkiez: Arbeitslose und Migranten lebten auf engstem Raum. Zugleich experimentierten Aussteiger im Quartier mit grün-alternativen Lebensmodellen: besetzten Häusern, kollektiven Wirtschafts- und Kulturbetrieben, Kinderbauernhöfen. 1987 entluden sich die sozialen Spannungen nach der „Revolutionären 1. Mai-Demo“. Ein Supermarkt brannte aus, Menschen plünderten und lieferten sich mit Polizisten Straßenschlachten bis in den frühen Morgen.

Die Zeit hat die meisten Spuren dieses Kreuzberg mitgerissen: den Eckladen von Eier-Schulz mit der schwarz gekachelten Fassade am Eingang zur Falckensteinstraße genauso wie das besetzte Werner-Orlowsky-Haus um die Ecke oder die Szenekneipe ­Kuckucks­ei samt handbepinseltem „Bullen raus!“-Transparent über dem Schaufenster. Nicht mal im Archiv des Kreuzberg-Museums findet sich zwischen Hunderten Schwarz-Weiß-Fotos eine Aufnahme von dem Altbau, in dessen Souterrain der Kicker und das Sofa für die Kinder des Falckensteinkellers standen. Nach einer Fusion mit dem Nachbarbezirk im Berliner Osten heißt der Stadtteil seit 2001 offiziell Friedrichshain-Kreuzberg. Hörensagen und Geschichten aus dritter Hand: Näher als mit Spoden und seinen gezeichneten Skizzen kann man dem, was hier vor dreißig Jahren passierte, kaum kommen.

Heute steht eine neue, leuchtend türkis und gelb getünchte Moschee auf dem Grundstück. Die Falckensteinstraße hat sich verändert: Touristen aus aller Welt schieben sich an den Thai- und Burgerlokalen vorbei. Statt für Eier und gegen „Bullen“ werben die Schaufenster für Berliner Modelabels und veganes Bio­eis am Stiel. SO 36 gilt jetzt als Spielplatz hipper Menschen, als Ausgehmeile. Zunehmend auch als attraktive Wohngegend für Mittelschichtsfamilien.

Aus welchen Elternhäusern kamen die Schüler, um die Sie sich damals kümmerten?

Christian Spoden: Betroffen waren vor allem Kinder aus sozial schwachem Milieu, darunter Migranten. Einige Schüler kamen aber auch aus grün-alternativen Familien, funktionierender Kreuzberger Mittelschicht. Ein Kind hatte Cellounterricht, der Vater war Kurator an einem Museum. Diese Familien lebten halb bürgerlich, halb alternativ.

Teil einer Kinderskizze des Falckensteinkellers Foto: Archiv

Sie erwähnten die Ängste der sexuell missbrauchten Schüler vor Aids. Waren die begründet?

Ja, denn es gab vermutlich auch Kinder, die von den Tätern angesteckt wurden. Ein 15-jähriger Schüler war zerfressen von der Angst, Aids zu haben. Einen HIV-Test durfte er jedoch aber nur mit der Erlaubnis seiner Eltern machen, aber die sollten nichts erfahren.

Warum nicht?

Einige Elternhäuser waren ein ganz eigenes Problem. Ein Junge wurde von seinem Vater verprügelt, nachdem der Missbrauch im Falckensteinkeller herausgekommen war. Dafür, dass er „zu dem Schwulen“ gegangen war. Der Vater schickte den Sohn dann zum Karatekurs, er sollte lernen, „sich wie ein Mann zu wehren“. Einige Täter schlichen sich gezielt in die Familien ein. Sie liehen den Eltern Geld, spielten die liebevollen Gönner. In eine Familie, bei der wir Hausbesuche machten, hatte sich der Täter richtig reingesetzt. Er machte die Mutter emotional abhängig, gab ihr Geld und missbrauchte die beiden Jungen heftig. Einer davon missbrauchte ein halbes Jahr später seine Schwester. So ein Nachspielen der Missbrauchssituation war nicht selten.

Die Täter nisteten sich in den alternativen Strukturen ein: Sie gründeten Jugendinitiativen, zogen in linke Hausprojekte. Diese Schattentopografie des Missbrauchs ist heute überformt. Längst parken vor den Grundschulen keine Wohnwagen mehr, in denen pädosexuelle Männer „Hausaufgabenhilfe“ anbieten. Das „Café Graefe“, in dem Pädogruppen tagten, machte zu. Das „Kerngehäuse“ in der Cuvrystraße existiert noch. Aus der Besetzung einer abrissreifen Fabrik erwuchs ein selbst verwaltetes Wohn- und Gewerbeprojekt. Auch heute lebt man dort noch in WGs, arbeitet in der Tischlerei, dem Impro-Theater, der Taxigenossenschaft. Aber nur noch sehr wenige Bewohner können oder wollen sich an die „Kiezmiliz“ erinnern. In den achtziger Jahren misstrauten viele in den Milieus der Linken, Alternativen und Autonomen staatlichen Institutionen wie der Polizei. Dieses Misstrauen ging so weit, dass man Pädosexuelle nicht anzeigte, sondern das Problem selbst lösen wollte. Manche versuchten, die Täter in Therapien zu drängen. Andere fanden sich in Gruppen wie der „Kiezmiliz“ zusammen und wollten Pädosexuelle, die in der Cuvrystraße Wohnungen angemietet hatten, mit Gewalt vertreiben.

Gezielt traten Pädosexuelle in die Alternative Liste ein. In der Vorläuferorganisation der Berliner Grünen engagierten sie sich für „Pädorechte“ und unterwanderten besonders den „Bereich Schwule der AL“. Der gab unter anderem „Kindersex“ verherrlichende Broschüren heraus wie „Ein Herz für Sitten­strolche“ (1980). Dieses Erbe flog den Grünen im Bundestagswahlkampf 2013 um die Ohren. Bis heute versucht die Partei einen angemessenen Umgang damit zu finden.

Dass grüne Pädophilielobby­isten und Intensivtäter so eng verflochten waren, wurde im Mai dieses Jahres deutlich. Mit dem Bericht einer parteiinternen Aufklärungskommission über die pädosexuellen Verwicklungen im Berliner Landesverband.

Wie konnten die Täter derart nah an die Kreuzberger Kinder herankommen?

Christian Spoden:Die Täter gaben sich als Pädagogen aus, gingen dorthin, wo sie mit ihrem Bedürfnis nach Körperkontakt und Nacktheit nicht auffielen. Ins Schwimmbad, in alternative Projekte – oder zu den Pfadfindern. Nacktheit hatte ja damals auch einen größeren Stellenwert im Alternativmilieu. Ich erinnere mich, dass ein Täter so dreist war, beim Bezirk eine Pflegestelle für Kinder zu beantragen. Und wir wissen bis jetzt überhaupt nicht, wie viele Kinder in dieser Zeit in Pflegefamilien missbraucht wurden. Einige Eltern waren einfach froh, dass ihre Kinder von der Straße weg waren. Im Falckensteinkeller lockten die Männer mit Hausaufgabenhilfe, warmem Essen und Freiheiten. Die Schüler spielten Flaschendrehen, bekamen Alkohol, wohl auch Drogen. Zugleich wurden Schüler massiv bedroht. In einem Fall hat ein Täter ein Haustier vor den Augen eines Kindes umgebracht, um es einzuschüchtern, damit es nicht vor Gericht aussagt.

Das aus dem alternativen Milieu hervorgegangene „Kinderschutzzentrum“ setzte auf die Strategie „Hilfe statt Strafen“ Foto: Isabel Lott

Einer der Intensivtäter hieß Fred Karst. Der bekennende Pädosexuelle war Mitbetreiber des Falckensteinkellers. Dort missbrauchten Karst und andere Männer eine Vielzahl von Kindern – vermutlich vor allem Schüler zwischen 9 und 13 Jahren. Karst war nicht nur bei den Pfadfindern aktiv, sondern auch Mitglied der Berliner Grünen. Dort engagierte er sich in der Schwulenpolitik. 1986 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, bis 1989 saß er im Gefängnis. Trotzdem durfte er in der Partei weiter wirken, vertrat noch 1992 den Schwulenbereich beim Landesparteitag. Im selben Jahr gründete Karst den Gesprächskeis „Jung und Alt“, eine notdürftig getarnte Pädosexuellengruppe. Erst nachdem er 1995 für den Missbrauch eines Achtjährigen verurteilt worden war, wurde ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet. Karst trat schließlich selbst aus.

Wie haben Sie Fred Karst in Erinnerung?

Christian Spoden: Ich erinnere mich an einen wirklich unappetitlichen Schmierbauch. Der Kerl war ungepflegt, dick, trug Hosenträger – alles an ihm hätte in ein dreckiges Rechtsmilieu gepasst. Der hatte überhaupt nicht den sozialen Code eines Grünen. Ich habe den deshalb immer als Nazi verbucht.

In seinem Aktenordner hat Spoden auch ein vergilbtes maschinengeschriebenes Pamphlet von Fred Karst aufbewahrt. Er überfliegt es, blättert angewidert weiter. Damals befasste sich Spoden kaum mit den Tätern, sondern konzentrierte sich auf die Opfer.

Was konnten Sie den Kindern, die in Ihr Schulbüro kamen, konkret anbieten?

Christian Spoden: Ich war einer von wenigen Menschen, denen sich die Jungen anvertrauen konnten, ohne dass ihre Informationen weitergegeben wurden. Mit Gruppen- und Einzelgesprächen, die zum Teil über Jahre gingen, bereitete ich eine spätere Therapie vor. Einige Kinder begleitete ich auch in den Prozessen gegen die Täter vor Gericht. Im Verfahren gegen Fred Karst habe ich ein paar Jungen im Bus zum Gericht gefahren. Als wir an der Wohnung eines anderen Täters vorbeikamen, meinte einer: Och, da oben ist noch die Carrerabahn, die er mir geschenkt hat. Und die anderen riefen: Hast du auch eine bekommen? Da kam raus, dass er dieselbe Bahn allen geschenkt hatte. Die Empörung, die dann losbrach, stand in keinem Verhältnis zur Empörung über die sexuellen Handlungen. Am Thema Betrug konnte ich ansetzen und ganz behutsam zum Kern der Sache, dem eigentlichen Missbrauch, kommen. Ohne den Schaden größer zu machen, als er war. Eine schwierige Gratwanderung.

Das heißt, während Sie mit den Kindern arbeiteten, ging der Missbrauch weiter?

Statt missbrauchende Eltern anzuzeigen, sollten sie therapiert werden. Der Staat galt als Feind Foto: Isabel Lott

Zu meiner Arbeit gehörte es, auszuhalten, dass die Kinder nebenbei weiter Missbrauchskontakte hatten.

Haben Sie die Kinder nicht gewarnt: Geht nicht mehr in den Falckensteinkeller?

So einfach funktionierte das nicht. Denn Einrichtungen wie der Falckensteinkeller bedeuteten den Kindern etwas. Es war für sie normal, dort hinzugehen. Die Männer waren zum Teil Elternersatz. Deshalb wollten die Kinder ihre Freunde nicht in die Pfanne hauen und gegen sie aussagen. Gleichzeitig ver­spürten alle einen Druck, sich zu öffnen. Aber die Täter gingen sehr geschickt vor. Sie verwendeten viel Energie darauf, die Schüler selbst zu Tätern zu machen, forderten sie auf, andere Kinder in den Keller mitzubringen und mit ihnen Sex zu machen. Dann drohten sie: Wenn du mich verrätst, verrate ich dich. Einige Schüler wurden auch mit pornografischen Fotos erpresst.

Spoden lief mit den Kindern durch das Viertel. Das war der Ansatz der 1984 gegründeten Kiez­schule. Sie zeigten ihm den „Falckensteinkeller“ und die Häuser, wo die Täter wohnten. Die Oberschule verstand sich als pädagogisches Modellprojekt für SO 36 mit einem Schwerpunkt auf „stadtteilorientertem Lernen“. Die Schüler brachten viele Pro­bleme mit in den Unterricht – die Schule wollte sie auffangen. Ein Sozialarbeiterteam bot Berufsberatung an, psychologischen Rat, Hausbesuche.

Spoden wohnte selbst in einer Kreuzberger WG. Wenn er ins Schwimmbad ging, traf er Schüler. Und unter der Dusche standen die Täter und waren nicht erfreut, dem Sozialarbeiter zu begegnen. Sehen und gesehen werden – auch das gehörte damals zu Spodens Arbeit in Kreuzberg, diesem Hippiedorf inmitten der Großstadt. Sogar Autonome von einem Kreuzberger Kinderbauernhof suchten seinen Rat, weil sie einen Pädokriminellen in ihrer Initiative bemerkt hatten. Die verhassten „Bullen“ einzuschalten, kam für sie nicht infrage. Lieber halfen sie sich selbst, fragten einen Fachmann um Rat. Der sollte therapieren. Spoden wich den Tätern nicht aus, sondern spürte ihnen gezielt nach. Einmal mischte er sich unter die Besucher eines Pädophilenstammtischs im Café Graefe – er wollte erleben, was dort ablief.

Sie lernten Kreuzberg als Tatort neu kennen?

Christian Spoden: Ja. Gleichzeitig musste ich aufpassen, mich nicht selbst verdächtig zu machen: Noch so ein netter Onkel, der Kindern ein Eis ausgibt … Die zuständige Inspektorin im Polizeipräsidium brauchte lange, um ihre Skepsis mir gegenüber abzulegen.

Über Misstrauen „Den Tätern kam entgegen, dass es besonders in der autonomen Szene eine Allergie gegen Polizei und Justiz gab“Christian Spoden

Warum blieben die Täter so lange unbehelligt?

Viele Jungs haben damals die Aussage verweigert. Deshalb drängte die Polizei mich: Bring die doch endlich mal zum Erzählen! Aber ich wollte keinen Druck ausüben. Es wurde ja ohnehin schon von allen Seiten Druck ausgeübt auf die Betroffenen. Spätestens wenn sie als Zeugen im Gerichtssaal saßen, und gegen einen übermächtigen, sie bedrohenden Täter aussagen sollten. Diese Blicke, diese Atmosphäre! Dass ein Kind da nichts sagt, ist doch völlig klar. Außerdem kam es den Tätern entgegen, dass es besonders in der autonomen Szene eine Allergie gegen Polizei und Justiz gab.

Heute setzen schon Kitas das Missbrauchsthema auf die Tagesordnung. Auch die Grünen gehen offensiv mit dem Kapitel ihrer Parteigeschichte um. Sie baten öffentlich um Ent­schuldigung, schalteten eine Hotline für Missbrauchsopfer. Kürzlich richtete die Grünen-Spitze einen Beirat ein, der Betroffenen therapeutische Unterstützung oder Geldzahlungen vermitteln soll.

Grüne Täter

Verstrickung: Die Grünen waren in ihren Anfangsjahren empfänglich für pädosexuelle Lobbyarbeit. Das dokumentiert eine Studie des Göttinger Parteienforschers Franz Walter von 2014. Bei den Berliner Grünen war es besonders schlimm. Ein im Mai erschienener Bericht des Berliner Landesverbands verdeutlichte, dass Teile der Partei über Jahre mit einem Pädophilennetzwerk verstrickt waren.

Täter: Mindestens zwei verurteilte Straftäter duldete die Partei bis Mitte der neunziger Jahre in ihren Reihen. Fred Karst und Dieter F. Ullmann, die wiederholt wegen Kindesmissbrauchs einsaßen, durften ihre pädosexuellen Positionen offen in Parteigremien vertreten. Im Schwulenbereich waren Propagandisten von straffreiem „Sex“ zwischen Kindern und Erwachsenen sogar in der Mehrheit.

Kritikerinnen: Nur die Kreuz­ber­ger Frauengruppe wagte Kritik. Dass Kreuzberger Kinder von organisierten Pädokriminellen vergewaltigt wurden, war damals bereits bekannt.

Wie erklären Sie sich, dass sich trotz der offenbar hohen Fallzahl bis heute kaum Betroffene zu Wort gemeldet haben?

Christian Spoden: Für mich ist das völlig nachvollziehbar. Denn dann müssten die Betroffenen sich ja outen und sich selbst zum Opfer deklarieren. Schon als Jugendliche verweigerten die meisten eine Therapie. Die haben gesagt: Ich geh doch nicht zum Kopfdoktor, ich hab doch keine Störung. Solche Scham- und Schuldgefühle wirken lange. Wie viele Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden, reden erst fünfzig Jahre später darüber. Gründe, zu verdrängen und zu schweigen, haben diese Kinder genauso. Auch weil sie so in die Sache verstrickt sind. Bei einer Telefonhotline würden die meisten wohl nie anrufen.

Berlin-Kreuzberg, 1982. Straßenfest in der Cuvrystraße. HausbesetzerInnen haben es zusammen mit anderen Berlinern organisiert Foto: Paul Glaser

Heute gibt es den gesellschaftlichen Wunsch nach Aufar­beitung. Sollte man die Betroffenen von damals mit diesem Anliegen besser in Ruhe lassen?

Jeder Mensch hat seinen eigenen Zeitpunkt, zu dem er sich damit beschäftigen will. Natürlich wäre es sehr interessant, die Jungen von früher anzuschreiben und einzuladen. Ich würde mich sofort gerne wieder mit denen treffen! Aber eine direkte Kontaktaufnahme ist sehr schwierig. Verdrängung ist ein sehr guter, schützender Mechanismus. Diese Schutzmaske darf man nicht herunterreißen. Wobei es immer auch Opfer gibt, die sich wünschen, angesprochen zu werden. Aber was damals passierte, ist jetzt in der Öffentlichkeit. Mehr kann man vermutlich nicht tun.

Finden Sie es selbstgerecht, mit den Maßstäben von heute über die Zeit damals zu urteilen?

Die Täter von damals haben nicht nur die Kinder und deren Familien ausgenutzt, sondern auch den damaligen Zeitgeist. Das Kreuzberger Credo hieß : Anything goes. Alternative, Autonome und Schwulenbewegung waren damals nur unzureichend sensibilisiert und unwissend, was das Thema sexueller Missbrauch anging. Heute mit dem Finger darauf zu zeigen ist billig. Die Betroffenen für eine Diskreditierung politischer Gegner zu benutzen niederträchtig.

Ich finde, Aufarbeitung ist eine Selbstverständlichkeit. Wir können daraus lernen. Das heißt aber auch, sich zu fragen, wo wir heute blinde Flecken haben. Das Kreuzberg der 80er Jahre ist Geschichte. Sexuelle Ausbeutung von Kindern nicht.

Nina Apin,41, ist Redakteurin im Berlinteil der taz und wohnte im Kreuzberger Wrangelkiez. Von dessen Vergangenheit erfuhr sie erst, seit sie über das pädosexuelle Erbe der Grünen schreibt

Astrid Geisler,40, berichtet im taz-Parlamentsbüro über die ­Grünen. Im Wrangelkiez schrieb sie ihr erstes Buch, der Arbeitsweg führte die Falckenstein­straße hinunter

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