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Neubau im Kugelhagel

Samariterkiez Das Viertel in Friedrichshain verändert sich dramatisch. Einige kämpfen gewaltsam gegen diesen Wandel. Die Front verläuft mitten durch den Kiez

„Wir wussten, dass Friedrichshain nicht einfach wird“, sagt Kaspar Deecke – aber das? Hinter diesen Fenstern schläft seine Tochter. 24 Stahlkugeln, durchschlugen das Fenster, hat Deecke gezählt Foto: Karsten Thielker

von Matthias Bolsinger

In der Morgendämmerung brechen die Stahlkugeln durchs Kinderzimmerfenster. Kaspar Deecke bekommt erst davon mit, als seine 14-jährige Tochter ihn weckt. Der Krach der Projektile macht sie wach.

Die gute Nachricht: Sie ist unversehrt. Die schlechte: Es ist schon der zweite Angriff in einer Woche. Deecke zählt die Einschusslöcher, es sind 24. Sechs Millimeter dick sind die Kugeln, die der Angreifer, wohl mit einer Schleuder, aufs Fenster geschossen hat. „Wir wussten, dass Friedrichshain nicht einfach wird“, sagt Deecke. Womit er nicht gerechnet hätte: Er wird dort zum Hassobjekt.

Der Angriff auf Deeckes Eigentumswohnung in der Liebigstraße ging durch die Medien. Weil er der Höhepunkt einer Serie von Attacken ist. Weil diese Löcher in der Fensterscheibe für den Unfrieden stehen im Samariterkiez. Dort, im Osten Friedrichshains zwischen Frankfurter Allee, Petersburger und Eldenaer Straße, werden Nachbarn zu Feinden. Es tobt ein Häuserkampf.

Auf der einen Seite dieses Kampfes steht eine politisch motivierte Kiezguerilla. Die autonome Szene ist fest verwurzelt im Samariterviertel. Sie will Freiräume verteidigen, die die Hausbesetzer nach der Wende erobert haben – ihre Freiräume. Sie will den kapitalistischen Wandel ihres Biotops mit Graffiti und Farbbeuteln, Steinen, Feuer und Stahlkugeln aufhalten.

Die Kiezguerilla kämpft verdeckt. Wer durch die Straßen spaziert, liest oft nur ihre bitteren Botschaften: „War auch schon mal schöner hier“, hat einer an die weiße Wand eines modernisierten Altbaus gesprüht. Daneben sind schwarze und lila Flecken zahlreicher Farb­beutelwürfe zu sehen.

Auf der anderen Seite stehen Investoren, Baugruppen, Besitzer von Eigentumswohnungen. Sie werden gemeinschaftlich dafür verantwortlich gemacht, dass im Kiez nichts mehr so ist, wie es war. Mehr als 90 Prozent der Altbauten sind hier seit dem Mauerfall modernisiert worden. Und wo gestern noch Brachen waren, stehen heute Neubauten. Mieten von 12 Euro pro Quadratmeter oder mehr sind keine Seltenheit.

Wer sich den Kiez nicht mehr leisten kann, muss gehen. Das Samariterviertel – einst so bunt –, verliert an Farbe. Die Kreativen, die Verrückten und Schrägen, die den Ort geprägt haben, sie werden immer weniger.

Für Außenstehende geschieht das fast unmerklich. Es wird ruhiger vor der Tür. Der Punk an der Ecke ist weg, der störende Techno verstummt.

Doch diese Stille trügt. Hinter so mancher Fassade im Samariterkiez fegt der Strukturwandel wie ein eiserner Besen die allerletzten Außenseiter auf die Straße.

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