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Jugendliche Straftäter in der UkraineNationales Pathos hinter Gittern

„Die rote Schneeballpflanze“ ist ein Kulturwettbewerb, an dem nur jugendliche Straftäter teilnehmen dürfen. Gelernt wird Patriotismus.

Die ukrainische Flagge ist bei der Veranstaltung unverzichtbar. Foto: Imago/Itar-Tass

PODVIRKI taz | Auf einem Fußballfeld mit einer überlebensgroßen Flagge der Ukraine als Bühnenbild bieten junge Männer in bunter ukrainischer Folklorekleidung Volkstänze, Lieder und Schauspiele dar. Das Fußballfeld befindet sich in der „Anton Makarenko Besserungsanstalt für Jugendliche, Kurjaska“ in dem Dorf Podvirki.

Und hier, ein Dutzend Kilometer von der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw entfernt, findet die Vorauswahl des diesjährigen ukrainischen Kulturwettbewerbs „Tscherwona Kalina“ (Rote Schneeballpflanze) statt. Beteiligen dürfen sich nur Ensembles von jugendlichen Strafgefangenen. Gekommen sind vor allem die Familien der Schauspieler, die in der Anstalt in Podvirki eine mehrjährige Freiheitsstrafe absitzen. Sie können ihre Söhne, Brüder oder Väter auf der Bühne sehen, erhalten nach dem Konzert die Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen.

Nur die Kulisse scheint nicht so recht in die Atmosphäre von Freilichttheater zu passen: Zwei durch hohen Stacheldrahtzaun voneinander getrennte Sicherheitsstreifen erinnern den Besucher daran, dass er sich in einem Gefängnis befindet. Auf einem der beiden Sicherheitsstreifen dreht das Wachpersonal seine Runden, auf dem anderen rennen Hunde auf und ab. Ihr Gebell mischt sich immer wieder in die Lieder und Darbietungen. Wachtürme und drei Meter hohe Mauern mit Stacheldraht verstellen die Sicht nach draußen.

„Lasst uns zusammenstehen, Freunde, für die geeinte Heimat – die heilige, unabhängige, geeinte Ukraine“ ist das diesjährige Motto des Kulturwettbewerbs. Wie ein roter Faden zieht sich die Liebe zur ukrainischen Heimat und einem geeinten Land durch die Darbietungen. Immer wieder halten die Tänzer ukrainische Fähnchen in die Höhe. Lediglich in einem Beitrag stören zwei als russische Soldaten verkleidete und vermummte Schauspieler, die eine Kalaschnikow drohend in den Händen halten, die Harmonie. Vertreter von Politik, Verwaltung und Strafvollzug fordern die Jugendlichen in ihren Reden zur Besserung auf.

80 Prozent sitzen wegen Diebstahls

Ganz im Geist des Namensgebers der Haftanstalt, Anton Makarenko, der immer wieder die Achtung der Erzieher vor seinen Zöglingen eingefordert hatte, sprechen sie mit Sympathie von ihren „Jungs“, erwähnen auch die Mitschuld der Gesellschaft an den Verbrechen ihrer Zöglinge. „Die Jungs hier sind in Ordnung“, erklärt Alexander Polituch, Verwaltungschef des Bezirks Dergatschewsk. „Man muss mit ihnen nur noch ein ganzes Stück arbeiten.“

Auch Juri Gagarin sei in Kurjaska gewesen und habe es zu etwas gebracht, betont ein Wärter. „Seit Monaten habe ich meinen Auftritt hier vorbereitet – und es hat mir Spaß gemacht“, berichtet Sergei gegenüber der taz. Er hofft, dass ihm von seinen sieben Jahren zwei wegen guter Führung erlassen werden. Er sitzt wegen Diebstahls.

„80 Prozent der jugendlichen Strafgefangenen hier sitzen wegen Diebstahls“, berichtet eine Mitarbeiterin der Verwaltung gegenüber der taz. „Wer ein Handy stiehlt, wird zur Bewährung verurteilt. Wer in der Bewährungszeit noch mal ein Handy stiehlt, erhält 3 Jahre Haft. Hat er das Handy gemeinsam mit anderen gestohlen, muss er sogar mit 5 Jahren rechnen“, so die Mitarbeiterin der Haftanstalt.

Ein Drittel der jugendlichen Strafgefangenen, so die Beamtin, komme aus Gebieten, die von der Zentralmacht nicht kontrolliert werden. Ihre Angehörigen haben es besonders schwer, von Donezk oder Lugansk nach Charkiw zu reisen. Und bei ihrer Entlassung müssen sich die Jugendlichen entscheiden, ob sie zu ihren Familien nach Donezk zurück oder ein neues Leben in anderen Regionen beginnen wollen. Niemand will, dass sich die Jugendlichen nach ihrer Entlassung aus der Haft den Aufständischen in Donezk und Lugansk anschließen. Diese Befürchtung dürfte hinter der Entscheidung gestanden haben, den Kulturwettbewerb der Jugendstrafanstalten unter ein patriotisches Motto zu stellen.

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