Parlamentswahlen Türkei: Die kurdische Herausforderung
Saruhan Oluc kandidiert für die HDP in Antalya. Er steht für eine Öffnung der Partei – und für einen erhofften politischen Umbruch.
Aus der demonstrativen Ablehnung wird plötzlich Neugier, als Saruhan Oluc ihm offenbart: „Ich bin auch kein Kurde. Und Kurdisch spreche ich auch nicht.“
Warum er denn dann als Spitzenkandidat für die HDP kandidiere, will der Ladenbesitzer wissen. Und schon befinden sich die beiden in einem Gespräch über die Probleme der Türkei und wie sie vielleicht gelöst werden können. Saruhan Oluc, 61 Jahre alt, ein Politprofi aus Istanbul, ist geübt darin, gewohnte Sichtweisen und Denkmuster aufzubrechen.
In den 1980er Jahren gehörte er zu den Mitgründern der linken ÖPD, die sich nach diversen Spaltungen vor zwei Jahren dazu entschloss, gemeinsam mit der damaligen kurdischen BDP die HDP zu gründen, die sich seitdem an die gesamte Wählerschaft der Türkei wendet. „Geben Sie uns eine Chance“, verabschiedet sich Oluc von dem Geschäftsmann, „das wird zum Frieden im Land beitragen und verhindern, dass Präsident Erdogan vollends zum Diktator wird.“ Der Mann will es sich überlegen.
Am 7. Juni wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Erstmals nach 13 Jahren droht der islamischen AKP ein Stimmenverlust. Laut Prognosen wird die Partei von Präsident Erdogan 40 bis 42 Prozent erreichen.
Die beiden Oppositionsparteien, die kemalistisch-sozialdemokratische CHP und die nationalistische MHP, befinden sich in leichtem Aufwind. Die CHP könnte auf 28 bis 30 Prozent kommen, die MHP liegt zwischen 16 und 18 Prozent.
Entscheidend für die Zusammensetzung des zukünftigen Parlaments wird aber sein, ob es der linken kurdischen HDP gelingt, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden. In diesem Fall könnte die AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament einbüßen und müsste sich einen Koalitionspartner suchen. (jg)
Die ewige Kurdenfrage
Seit Wochen zieht Saruhan Oluc nun mit dieser Botschaft durch Antalya: Wer die Allmachtfantasien von Recep Tayyip Erdogan stoppen will, muss der kurdischen HDP über die undemokratische 10-Prozent-Hürde helfen. Und wer Frieden im Land will, muss außerdem die HDP als Verhandlungspartner der Regierung unterstützen. „Ohne die HDP kann die kurdische Frage nicht gelöst werden“, sagt Oluc, „und ohne eine Lösung der kurdischen Frage wird es in der Türkei keinen demokratischen Fortschritt geben.“ Das ist sein Credo.
Im Mai ist es im südlichen Antalya bereits sommerlich warm, der Straßenwahlkampf ist eine schweißtreibende Angelegenheit. Doch Oluc macht es Spaß, mit Menschen zu reden. Sein Team ist hoch motiviert, die HelferInnen verteilen überall Flyer und fragen bei den Ladenbesitzern vorher an, ob ihr Spitzenkandidat zu einem Gespräch willkommen sei. So schafft Oluc in drei bis vier Stunden fast fünfzig Begegnungen.
„Das persönliche Gespräch ist sicher nicht allein ausschlaggebend für die Wahlentscheidung“, sagt er, aber die Leute hörten sich seine Argumente bereitwillig an. „Da viele Medien und vor allem viele TV-Stationen von der Regierung kontrolliert werden, zählt die persönliche Begegnung.“
Auch wenn er aus Istanbul kommt, Saruhan Oluc passt gut nach Antalya. Die boomende Mittelmeermetropole mit ihren zwei Millionen Einwohnern ist kosmopolitisch und hat eine stabile Mittelschicht, die überwiegend säkular ausgerichtet ist. Hier hatte lange die kemalistisch-sozialdemokratische CHP die Nase vorn. Erst durch Veränderungen der Wahlkreise und die Einbeziehung vieler Dörfer in der Umgebung hat die islamische AKP von Präsident Erdogan bei den Kommunalwahlen im Frühjahr letzten Jahres die CHP ganz knapp schlagen können und stellt jetzt den Bürgermeister von Antalya.
Saruhan Oluc ist ein klassischer Vertreter der säkularen Mittelschicht und kann deshalb bei vielen Bürgern punkten. Er ist Absolvent einer Istanbuler Eliteschule und hat als Bauingenieur einen respektablen Beruf. „Ich registriere täglich eine Normalisierung im Umgang mit uns“, sagt Oluc. Die Propaganda der Regierung, dass die HDP doch nur ein Anhängsel der kurdischen Terrororganisation PKK sei, ziehe bei vielen Leuten nicht mehr. „Für viele Wähler ist die HDP mittlerweile ein legitimer Teil des türkischen Parteienspektrums. „Das hat mich wirklich positiv überrascht.“
Keine ethnische Beschränkung
Dass sich Menschen wie Saruhan Oluc der HDP angeschlossen und so die ethnische Beschränkung der „Kurdenpartei“ aufgeweicht haben, trägt sicher ganz wesentlich zu dieser Normalisierung bei. Noch schwerer aber wiegt, dass ausgerechnet die HDP in diesem Wahlkampf 2015 zum Zünglein an der Waage werden könnte. Das türkische Wahlsystem bringt es mit sich, dass eine Partei, die die 10-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament schafft, auf einen Schlag knapp 60 Abgeordnete bekommt.
Sollte die HDP also mindestens 10 Prozent bekommen, würde das die Zahl der Sitze der stärksten Partei, der AKP, schmälern, die immer am stärksten von den verlorenen Stimmen der unter 10 Prozent gebliebenen Parteien profitiert hat. Gäbe es vier statt der bislang drei Parteien, brauchte sie weit mehr Stimmen als bisher, um die Zahl ihrer Sitze halten zu können.
„Die große Begeisterung, die Erdogan und seine AKP zehn Jahre lang getragen hat, ist vorüber“, stellt Saruhan Oluc fest. Gerade kommt er von einem Treffen mit dem Tourismusverband zurück. „Dass sich die Wirtschaftsverbände in Antalya für uns interessieren, wäre bei der letzten Wahl noch undenkbar gewesen.“
Die türkische Tourismusindustrie ist alarmiert: Die Zahl der Besucher sinkt. Die Zahl der russischen Touristen, die im letzten Jahr mit 3,5 Millionen vor 3 Millionen Deutschen noch die größte Besuchergruppe bildeten, hat sich sogar halbiert, aber auch die Buchungen aus Westeuropa sind rückläufig. „Erdogan wird nicht mehr als Garant eines weiteren Wirtschaftsaufschwungs gesehen“, resümiert Oluc seine Gespräche. „Im Gegenteil: Im Tourismusgeschäft mit Europa wird sein Image mittlerweile sogar zu einer Belastung.“
Präsenz zeigen
Das Hauptwahlkampfbüro der HDP in Antalya liegt gegenüber einem der größten innerstädtischen Einkaufszentren. Es herrscht reges Kommen und Gehen in der Parteizentrale. Während sich in der einen Ecke die traditionellen kurdischen Kämpfer unter den Märtyrerbildern der gefallenen PKK-Guerilleros versammeln – politisch sind sie derzeit kaltgestellt –, holen sich im Zimmer nebenan junge türkische Frauen Wahlkampfmaterial ab, das sie in der Fußgängerzone verteilen wollen.
Trotz der Anschläge in Adana und Mersin, wo Bombenattentate auf die Wahlkampfbüros der HDP verübt wurden, wollen sie sich nicht abschotten. „Jeder soll ungehindert bei uns reinkommen können“, sagt Oluc. Und tatsächlich schauen viele vorbei und fragen nach, wie sie helfen können.
Einer davon ist Hüseyin Görbüz. Der 50-jährige Mann ist erst vor einem Jahr aus Hamburg hierhergezogen und hat sich noch nicht entschieden, ob er bleiben will. „Das hängt für mich davon ab, ob wir Erdogan stoppen können. Wenn die Türkei zu einer Erdogan-Diktatur wird, gehe ich zurück nach Deutschland.“ Hüseyin Görbüz ist wie Saruhan Oluc kein Kurde, er ist nicht mal Mitglied der HDP, sondern der deutschen DKP. „Aber die HDP“, sagt er, „ist die einzige Partei, die verhindern kann, dass die Türkei zu einer Art kasachischer One-Man-Show wird.
Schafft die HDP den Sprung ins Parlament, kann Erdogan seine verfassungsändernde Mehrheit vergessen.“ Mit einer Zweidrittelmehrheit könnte Tayyip Erdogan eine neue Verfassung und damit ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem durchbringen. Dieser Gedanke mobilisiert viele Regierungsgegner.
Deutschtürkische Helfer
Hüseyin Görbüz ist nicht der einzige Deutschtürke, der sich für die HDP engagiert. Auch die Nummer zwei auf der Kandidatenliste, sozusagen die weibliche Spitze der Partei in der Stadt am Mittelmeer, kommt aus Deutschland. Deniz Yilderim hat jahrzehntelang in Dortmund gelebt und in Deutschland studiert. Sie arbeitet jetzt als Anwältin in Antalya, fühlt sich Dortmund aber nach wie vor verbunden.
„Obwohl wir kein Geld für große Plakataktionen oder gar Fernsehwerbung haben, kennen uns die Leute“, sagt sie enthusiastisch. „Ich werde schon auf der Straße angesprochen.“ Deniz Yilderim bereitet sich auf ihren bislang größten Auftritt im Wahlkampf vor. Am Nachmittag soll der nationale Spitzenkandidat der HDP, der charismatische Selahattin Demirtas, zur Großkundgebung nach Antalya kommen.
Wie andere Kurdinnen im Wahlkampfteam hat Yilderim für diesen Auftritt ein traditionelles buntes Kleid angezogen und fiebert ihrem Auftritt entgegen. Zusammen mit Oluc und den anderen Kandidaten der HDP wird sie Demirtas mit einem Autokonvoi entgegenfahren, um ihn an der Stadtgrenze in Empfang zu nehmen.
Die Kundgebung ist für 16 Uhr in einem Außenbezirk von Antalya angesetzt – zu früh für die arbeitende Bevölkerung, der Platz füllt sich nur langsam. Doch als Saruhan Oluc um 17 Uhr als Lokalmatador und Anheizer für Demirtas das Mikro ergreift, ist der Platz bereits gut gefüllt. Das Publikum besteht überwiegend aus kurdischen Zuwandererfamilien, die sich als Saisonarbeiter in den Treibhäusern im Umland oder als Servicepersonal im Tourismus ihr schmales Einkommen verdienen.
Die neue Hoffnung
Hier sind andere Qualitäten gefragt als im Gespräch mit den Geschäftsinhabern oder saturierten Bürgern der Stadt. Doch Saruhan Oluc, der differenziert argumentierende Intellektuelle aus Istanbul, versteht sich auch auf dröhnende Wahlkampfrhetorik. Als er nach zehn Minuten das Mikro an Selahattin Demirtas, den großen Star der HDP, weiterreicht, ist die Menge aufnahmebereit für dessen Botschaften. Demirtas wird bereits als der Tsipras der Türkei gehandelt. Er ist jung, schlagfertig und witzig und trägt damit ebenfalls dazu bei, der HDP neue Wählerschichten zu erschließen.
Knapp 30.000 Leute sind gekommen, Saruhan Oluc ist anschließend sehr zufrieden. „Die Stimmung ist auf unserer Seite. Wenn es nicht in den letzten Tagen vor der Wahl noch zu einem schlimmen Zwischenfall kommt und wenn es keine größeren Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen gibt, sollten wir es schaffen: Wir können Erdogan stoppen.“
Oluc selbst braucht ungefähr 80.000 Stimmen, um einer von 14 Abgeordneten zu werden, die die Provinz Antalya ins Parlament nach Ankara schickt. Auch das sollte zu schaffen sein. „Wäre doch klasse, die nächsten vier Jahre einen Wahlkreis am Mittelmeer zu haben.“ Und auch Hüseyin Görbüz und Deniz Yilderim würden der Türkei nicht den Rücken kehren.
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