„Das Handbuch der Hoffnung“: Ein finnisches Non-Action-Comic
„Vielleicht gab es niemals ein früher“: Tommi Musturi variiert in „Das Handbuch der Hoffnung“ meisterhaft Tempo und Raum.
„Was sollen wir tun? – Tun? Womit? – Na mit diesem? Leben. – Was der Mensch so tut. Dahinleben. – Ufff. (Pause) Das klingt so einfach.“
Man hat es nicht immer leicht, erst recht nicht als alter finnischer Mann. Dieser hier hat gerade eine existenzielle Krise. Er schwitzt in der Sommerhitze. Er steht vor dem Spiegel und redet über seinen fett gewordenen Bauch. Er begräbt einen toten Vogel. Und hängt immer wieder erschöpft in seinem Sessel.
Da werden auch schon mal Todesanzeigen studiert oder Dinge gesagt wie „Mann, ich fühl mich so leer.“ oder „Vielleicht gab es niemals ein früher.“ oder auch: „Die Taten, die man sich für das Alter aufgespart hat, sind in den Augen der Zeit nur gefälschte Kopien der eigenen Ideen.“ Zwischendurch hat er wirre Träume, in denen er der Held eines blutrünstigen Westerns ist. Ein ganzer Kerl, bereit zu töten.
Kleinigkeiten, die erfreuen
Aber das Comic, das von diesem einen alten Mann und vom Mannsein überhaupt handelt, heißt nicht umsonst „Das Handbuch der Hoffnung“. Immer wieder sehen wir auch, wie der Mann sich an den Kleinigkeiten der Welt erfreuen kann, wobei seine Welt zum größten Teil aus den Birkenwäldern des finnischen Hinterlandes besteht. Zeichner Tommi Musturi ist selbst in diesem Nirgendwo aufgewachsen. In seinem Heimatdorf lebten nur etwa zwanzig Leute, der nächste Laden war zehn Kilometer weit weg. Das romantisch verwitterte Holzhaus, in dem der alte Mann mit seiner Frau lebt, ist dem von Musturis Großmutter nachempfunden.
Tommi Musturi: „Das Handbuch der Hoffnung". Aus dem Finnischen von Lauri Peltonen und Elina Kritzokat. Avant-Verlag, Berlin 2015, 224 Seiten, 29,95 Euro.
Jede Doppelseite im Handbuch der Hoffnung erzählt eine kleine Geschichte, insgesamt sind es über hundert in fünf Teilen, die zwischen 2006 und 2013 erschienen sind. Nun gibt es die Gesamtausgabe auch auf Deutsch. Die Produktion des Buches hat Tommi Musturi mit den Ausgaben für Polen, Frankreich, Spanien, Finnland und Dänemark synchronisiert, um Druckkosten zu sparen und nebenbei auch noch sämtliche Bücher eigenhändig gelettert. Monate hat er damit zugebracht.
Das Vergehen der Zeit ist das große Thema seiner Comics. Dabei nutzt Tommi Musturi gestalterisch stets den gleichen Aufbau, ein Raster von sechzehn gleich großen Bildern, in zwei Reihen angeordnet. Meisterhaft variiert Musturi das Tempo. Mal vergehen auf einer Doppelseite nur Augenblicke, mal wird der Lauf eines ganzen Lebens erzählt, mal teilen wir die Träume und Gedanken des alten Mannes.
Kunst mit Komplementärfarbenpaaren
„Ich nenne es einen finnischen Non-Action-Comic: Die meiste Action spielt sich im Kopf des Protagonisten und des Lesers ab“, sagt Tommi Musturi. Er empfiehlt, sein Buch möglichst in einem Stück zu lesen. „Klar, man kann ein paar Seiten sehr schnell lesen. Aber auf dem Land verläuft das Leben viel langsamer. Deswegen will ich die Leser dazu bringen, runterzuschalten. Man braucht so 50 Seiten, um sich darauf einzustellen.“
Er hat recht. Nur so ist es überhaupt denkbar, einen Zugang zu den mäandernden Gedankengängen des alten Mannes zu finden. Auch hat man erst dann das Auge für die vielen Details in den Zeichnungen, die Musturi mit saftigem Strich gestaltet hat. Und was für Farben er verwendet! In den ersten drei Teilen zeigt Musturi, was man alles aus Komplementärfarbenpaaren – orange-blau, violett-ockergelb, waldgrün-rosarot sind sie – herausholen kann.
Ab dem vierten Teil entfaltet das Buch dann expressionistische Regenbogenqualitäten. Nun rückt auch die Ehefrau erstmals ins Bild, vorher war sie nur als seltene Stimme der Vernunft aus dem Off wahrnehmbar. Die Depression ist überwunden, aus dem Saftsack im Sofasessel wird ein Mann voller Talente. Alte Fotos zeigen, auf was für ein wildes und erfülltes Leben er mit seiner Frau zurückblicken kann.
Auf die Frage, ob er Angst vor dem Alter habe, antwortet Tommi Musturi mit Nein. Es gibt noch Hoffnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video