: Zweifel am Sparzwang
Wirtschaftsweise sehen geringere Haushaltslücke. Erhöhung der Mehrwertsteuer zur bloßen Sanierung lehnen sie ab
VON HANNES KOCH
Manchmal wundert sich selbst ein Wirtschaftsweiser. Zum Beispiel darüber, mit welch grandiosen Zahlen die Berliner Koalitionsverhandler um sich werfen. Ein Haushaltsloch von bis zu 70 Milliarden Euro? Fragend blickte Bert Rürup gestern gen Himmel. Das kann sich der Vorsitzende des Sachverständigenrates – der ökonomische Chefberater der Bundesregierung – auch nicht so richtig erklären. In ihrem Jahresgutachten kommen Rürup und seine vier Wirtschaftsweisen-Kollegen auf „nur“ 25 Milliarden Euro außerplanmäßiges Defizit im Bundeshaushalt 2007.
Union und SPD dagegen rechnen mit mindestens 35 Milliarden jenseits der normalen Kreditaufnahme – wahlweise auch mit mehr. Konstruieren sich die Verhandler da einen Sparzwang? Erzeugen sie den Angstzustand, nur um ihn zu lindern?
Die Antwort hängt vom Blickwinkel ab. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hat der großen Koalition höhere Zahlen für die Ausgaben mitgegeben, als Rürup dem Jahresgutachten zugrunde legte. So nehmen die Ökonomen für nächstes Jahr mit zusätzlichen 3,5 Milliarden Euro für die Arbeitsmarktreform Hartz IV im Vergleich zum Finanzministerium nur den halben Zuwachs an. Deshalb warnen die Sachverständigen zwar vor der größer werdenden Differenz zwischen niedrigen Einnahmen und höheren Ausgaben, halten aber den konkreten Spardruck in den kommenden Jahren für deutlich geringer als die Politiker. So würden 6 Milliarden Euro Einsparungen 2006 – vorzugsweise durch Kürzungen der Pendlerpauschale und der Eigenheimzulage – schon reichen, um den Stabilitätspakt von Maastricht wieder einzuhalten.
Insgesamt neigen die Wirtschaftsprofessoren zu deutlich weniger Panik als die Berufspolitiker. Aus ihrer Distanz gaben die vier Herren und eine Dame einige Ratschläge, die Union und SPD in den Verhandlungen noch berücksichtigen könnten, wenn sie denn wollten. Von dem Plan, die Mehrwertsteuer zwecks Haushaltssanierung um 2 bis 3 Prozent zu erhöhen, halten die Sachverständigen gar nichts. Dies werde eine „kontraktive Wirkung“ auf die Wirtschaft entfalten, so Rürup. Nicht nur die Konsumenten würden weniger Produkte nachfragen. Außerdem würde den Unternehmen quasi eine zusätzliche „Gewinnsteuer“ aufgebürdet, weil sie die höhere Mehrwertsteuer angesichts der lahmen Wirtschaftslage nicht voll an die Verbraucher weitergeben könnten. Fazit: In der gegenwärtigen Lage tut die neue Regierung genau das Gegenteil von dem, was notwendig wäre.
Die Wirtschaftsweisen schätzen, dass der Abbau von sozialversicherungspflichtigen Stellen so nicht gestoppt wird. Nach einem Rückgang von 395.000 in 2005 werden nächstes Jahr vermutlich rund 160.000 sozialversicherungspflichtige Jobs verloren gehen. Diese Verringerung deutet auf ein nur bescheidenes Wachstum hin: 1 Prozent erwarten die Ökonomen für 2006 – mehr nicht.
Um irgendwann dann doch einmal wieder ein höheres Wachstum zu erzielen, empfehlen die Wirtschaftsweisen im Prinzip, den Kurs der vergangenen sieben Jahre fortzusetzen. Das bedeutet: langfristige Einschränkung der Staatsausgaben, die Abkopplung der Ausgaben für die soziale Sicherung vom Faktor Arbeit und Senkung der Unternehmensteuern.
Teil des Jahresgutachtens ist ein detailliertes Reformprogramm, das die so genannte duale Besteuerung (siehe unten), weitere Kürzungen beim Arbeitslosengeld, eine privat finanzierte Pflegeversicherung und weniger Kündigungsschutz enthält.
Unter anderem beim letzten Punkt hat Peter Bofinger als einziges Mitglied der Wirtschaftsweisen ein Minderheitenvotum eingelegt. Weniger Sicherheit am Arbeitsplatz könne die Stimmung der Verbraucher noch weiter trüben – und damit die gesamtwirtschaftliche Lage eher verschlechtern.
Auf die Frage, warum das bisherige Programm nicht gewirkt und viele neue Jobs geschaffen habe, erklärte Bert Rürup: Geduld sei angebracht.
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