Erregungspotenzial im Internet: Mit Hate Mails verbündet
Die Reaktionen auf die Videobotschaft des Zeit-Feuilletonchefs Jens Jessen demonstrieren die Vielfalt an Schimpfwörter. Wer schreibt eigentlich solche Kampfansagen?
Hate Mails sind eine oft beeindruckende Textform. Wer sich derzeit etwa durch die Reaktionen auf den schrägen Videoblog des Zeit-Feuilletonchefs Jens Jessen googelt (taz vom 17. 1., www.perlentaucher.de, www.bildblog.de), der zuckt unwillkürlich zurück. "Dummheit", "Perversion", "Dreckschleuder", "Stürmer-Niveau", "Schande", "Schweinerei" - ein Arsenal platter Schimpfwörter, schwallartig ausgekübelt. Außerdem artikuliert sich ein imposantes Spektrum an Gewaltfantasien, die im Kern ausdrucksstark das Schema variieren: "Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie bald Opfer eines Überfalls durch Ihre Lieblinge werden." Der Fall zeigt wieder mal: Irgendwo da draußen, an den Computertastaturen dieser Gesellschaft, ist ein wildes Erregungspotenzial unterwegs.
Allerdings zeigt er zugleich das systematische Problem mit Hate Mails: Man hat es mit dringlich auftretenden Texten zu tun, aber kennt die Absender nicht. Da kann man dann immer prima spekulieren. Sind tatsächlich die Rentner, die Jessen in seinem Blog als Spießer bezeichnete, in authentischer Empörung online gegangen? Sind das wirklich alles Zeit-Leser? Oder haben sich Bild-Leser, die den Feingeistigen immer mal eins auswischen wollten, eingeschaltet? Folgt der Fall gar im Ganzen einer Kampagnendramaturgie - als letztlich inszenierte Artikulation eines angeblich gesunden Volksempfindens?
Von der reinen Textgestalt her kann man nicht einschätzen, um was für einen Sprechakt es sich handelt. Inzwischen haben sich Hate Mails auch längst zu einer eigenen Kunstform entwickelt, auf den einschlägigen Internetadressen (etwa www.pi-news.net) werden besonders radikale Beschimpfungen stolz präsentiert wie hübsche Pirouetten beim Eiskunstlaufen. Haben sich also die Hate-Mail-Matadoren bei Jens Jessen zugeschaltet?
Ein Wunsch an die Mediensoziologen: Sie mögen in diesem konkreten Fall einmal Untersuchungen über die Absender anstellen. Wer schreibt Hate Mails? Und gibt es bei der Erregungsenergie Katharsis- oder Nachahmungseffekte? Das wäre konkrete Aufklärungsarbeit bei diesem Phänomen, das die Öffentlichkeit weiter begleiten wird.
Schon bevor das alles wissenschaftlich geklärt ist, müssen sich aber Journalisten fragen, wie sie mit dem Phänomen umgehen wollen. Kürzlich wurde landauf, landab über das Verhältnis von Qualitätsjournalismus und Blog-Öffentlichkeit debattiert. Der aktuelle Fall spricht eher für die Künstlichkeit einer solchen Trennung. Schließlich gibt es auch im Feuilleton einen Journalismus, der sich als Versuch verstehen lässt, solche Erregungskurven, wie sie sich in Hate Mails zeigen, zu orchestrieren - die Anstrengungen von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, Denken nicht als Reflexion, sondern stets als Tat zu inszenieren (Gesellschaft retten, Tom Cruise heiligen, Ausnahmezustände ausrufen - oder so ähnlich), zielen in diese Richtung. So ein Journalismus ist mit Hate-Mail-Phänomenen verbündet.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen