: „Der Homo sovieticus lebt bei uns fort“
WEISSRUSSLAND Swetlana Alexijewitsch über den Zuspruch für Lukaschenko, das Trauma des 19. Dezember und die Fehler der Opposition
■ 62, ist eine weißrussische Schriftstellerin. Alexijewitsch wurde in Iwano-Frankiwsk in der heutigen Ukraine geboren, studierte in Minsk Journalistik und arbeitete dort für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Bekannt wurde sie durch ihre dokumentarische Prosa, etwa über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.
■ Als Kritikerin des Regimes von Alexander Lukaschenko war sie mehrfach Repressionen ausgesetzt. Derzeit arbeitet sie an ihrem neuen Roman, „Second-hand-Zeit – das Ende des roten Menschen“. Seit 2000 lebt sie mit Unterbrechungen im westlichen Ausland. Gegenwärtig ist sie Stipendiatin des DAAD und lebt in Berlin.
INTERVIEW BARBARA OERTEL
taz: Frau Alexijewitsch, Sie waren in Minsk, als die Staatsmacht am 19. Dezember 2010 die Demonstrationen gegen Fälschungen bei der Präsidentenwahl gewaltsam niederschlagen ließ. Hatten Sie mit dieser Reaktion gerechnet?
Swetlana Alexijewitsch: Dass die Macht mit dieser Härte und so erbarmungslos vorgegangen ist, hat mich vollkommen schockiert. Ich saß mit meinen Freunden in der Küche, wir sprachen über die Ereignisse und waren fassungslos. Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass das, was wir bei Alexander Solschenizyn im „Archipel Gulag“ gelesen hatten, nach der Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei uns noch einmal Realität werden könnte.
Dabei vertreten selbst einige Kritiker von Staatspräsident Alexander Lukaschenko die These, dass er auch ganz ohne Fälschungen die Mehrheit der Wählerstimmen bekommen hätte.
Diese Meinung teile ich. Ich bin in den vergangenen Monaten viel durch ländliche Gebiete gereist, und da wollte ein Großteil der Menschen für Lukaschenko stimmen.
Wie erklären Sie sich diesen Zuspruch?
Wenn man die heutige Situation in Weißrussland mit der vor 16 Jahren vergleicht, so hat sich das Land sehr zum Positiven verändert. Viele Leute leben besser. Sie haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, fahren bessere Autos und machen Urlaub in Ägypten oder in der Türkei. Das heißt, sie haben etwas zu verlieren. Natürlich halten viele Lukaschenko für einen Banditen und mögen ihn nicht mit seiner Kolchosbauernart, seinem Mangel an Intelligenz und seiner Dickköpfigkeit, dieser ganzen Unzivilisiertheit. Doch andererseits tut er auch etwas für die einfachen Bürger. Lukaschenko hat eine sozial orientierte Diktatur errichtet, unter der er mit der Bevölkerung einen Sozialvertrag geschlossen hat.
Worin besteht das Wesen dieser Diktatur?
Als unter Michail Gorbatschow die Perestroika, die Umgestaltung der Sowjetgesellschaft, begann, wollte der Sowjetmensch etwas Besseres als den Sozialismus, aber keinen Kapitalismus. Doch der Kapitalismus kam, und die Menschen sind unzufrieden. Und was hat Lukaschenko getan? Er hat zwar einige Änderungen eingeführt, doch im Grunde den Sozialismus konserviert. Es ist, als sei bei uns die Zeit stehen geblieben. Wir haben saubere Straßen, saubere Dörfer, die Kolchosen funktionieren. Lukaschenko hat gezeigt, dass der Sozialismus bei uns noch Potenzial hat. Außerdem kommt er aus einem Dorf und weiß, was die Menschen dort brauchen und wollen: eine bestimmte Auswahl an Nahrungsmitteln, Kleidung, eine Wohnung, Arbeit und dass ihre Kinder lernen können. Im Moment interessiert sie nur das Materielle. Und Lukaschenko reagiert darauf. Über Demokratie hingegen redet keiner.
Also hat er in Weißrussland überlebt, der Homo sovieticus?
Absolut. Der Mensch gibt für zwanzig Jahre sein Leben in die Hand einer Person und ist mit allem einverstanden. Doch dafür verlangt er Garantien. Und diese Garantien gibt Lukaschenko. Der Homo sovieticus in Weißrussland, das ist kein freier Mensch, das ist ein Mensch, der gar nicht weiß, was „frei“ bedeutet. Wenn es verschiedene Sorten Wurst gibt, dann ist das für ihn Freiheit.
Kommen wir zum 19. Dezember zurück: Wenn Lukaschenko die Wahlen ohnehin gewonnen hätte, warum hat er dann mit dieser Härte reagiert?
Er hat an diesem Abend wohl die Nerven verloren, weil er nicht erwartet hatte, dass so viele Menschen auf die Straße gehen würden. Außerdem hat er immer das Schicksal seines Freundes, des gestürzten kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew, vor Augen.
Was meinen Sie damit?
Bakijew hält sich derzeit in Minsk auf, und die neue kirgisische Regierung verlangt seine Auslieferung. Mehrmals hat Lukaschenko im Fernsehen gesagt: „So wie Bakijew werdet ihr mich nicht hinwegfegen.“ Ich war immer erstaunt, dass niemand diese Drohungen ernst genommen hat. Denn es war klar, dass Lukaschenko ohne Blutvergießen die Macht nicht abgeben wird. Dennoch dachten die Menschen, dass sie am Abend des 19. Dezember in Minsk eine Revolution machen könnten. Warum, ist mir rätselhaft.
Sind der 19. Dezember 2010 und die sich daran anschließende enorme Repression eine Zäsur?
An so ein Minsk wie zum Jahreswechsel und zu Weihnachten kann ich mich nicht erinnern: dunkle Fenster, kaum Tannenbäume, kaum Betrunkene. Während des Feuerwerks waren fast alle Cafés, Restaurants und Taxis leer. So etwas gab es noch nie; die Leute waren in einem Schockzustand, sie haben sich vor Angst verkrochen. In den Minuten, als die Menschen zusammengeschlagen wurden, hat Lukaschenko alles verloren: sein Gesicht, sein Volk und alles, was er mit Europa erreicht hatte. Der 19. Dezember wird ein großes Trauma bleiben.
Worin besteht dieses Trauma?
Die Weißrussen haben immer gegen einen äußeren Feind gekämpft, gegen die Polen, die Russen, die Deutschen. Aber jetzt auf dem Oktoberplatz haben Weißrussen Weißrussen geschlagen. Weißrussen haben Weißrussen verhaftet und sie ins Gefängnis gesteckt. Die Feinde sind Weißrussen. Unsere national eingestellte Elite verbreitet jetzt Gerüchte, dass die Unruhen vom russischen Geheimdienst provoziert worden seien. Der Gedanke ist leichter zu ertragen, dass das Fremde waren. Lukaschenko hat uns dazu gebracht, uns gegenseitig zu bekämpfen.
Woran lässt sich das ablesen außer an den Repressionen?
In meinem Haus in Minsk lebt neben mir eine Frau, die früher als Verkäuferin gearbeitet hat. Wir haben uns immer freundlich gegrüßt. Nach dem 19. Dezember begrüßte sie mich nicht mehr. Ich fragte sie, warum. Und sie sagte: „Eure Zeit ist abgelaufen. Bald werden sie euch alle ins Gefängnis werfen. Jetzt ist es genug damit, das weißrussische Volk in den Dreck zu ziehen!“ Kurze Zeit später ging ich zu einem Kindergarten in Minsk. Dort stand ein Mann mittleren Alters und sprach mich an: „Wissen Sie, dass in diesem Kindergarten Kinder von Mitarbeitern der Miliz und von Lukaschenkos Beamten sind? Da müsste man eine Granate hineinwerfen! Diese Milizionäre … ich hasse sie alle.“ So reden die Leute jetzt, es ist grauenhaft. Das Land ist geteilt, es gibt nicht mehr ein Weißrussland, sondern zwei. Das hätte sich früher niemand vorstellen können.
■ Die Wahl: Offiziellen Angaben zufolge gewann Weißrusslands autoritärer Staatspräsident Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 mit rund 80 Prozent der Stimmen. Am Wahlabend protestierten zehntausende Menschen gegen die Wahlfälschung.
■ Die Repression: Das Regime schlug den Protest nieder und ließ rund 600 Menschen festnehmen. Etwa 30 sitzen weiterhin im Gefängnis, darunter mehrere Präsidentschaftskandidaten. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft.
■ Die Reaktion: Am 31. Januar wollen die EU-Außenminister über Sanktionen gegen Weißrussland entscheiden. So könnten erneut Einreiseverbote über hochrangige Vertreter des Regimes verhängt werden. (bo)
Birgt denn dieses Zäsur oder dieses Trauma nicht doch ein Potenzial für Veränderungen?
Das Volk will Veränderungen, aber nicht um den Preis des Blutvergießens. Für die Weißrussen, die immer unter fremder Herrschaft gelebt haben, ging es immer ums Überleben, das ist so eine Art bäuerlicher Philosophie des Überlebens. Aber kämpfen werden sie nicht. Einige tun das, aber das Volk unterstützt sie nicht. Im Baltikum ist das anders, dort gab es eine klar formulierte nationale Idee. Nehmen Sie die Bewegung Sajudis in Litauen, die hatte Rückhalt in der Bevölkerung. Weißrussland aber ist eine verspätete Nation.
Die EU plant, Sanktionen gegen Weißrussland zu verhängen. So soll die Liste von Politikern, die nicht nach Europa reisen dürfen, erweitert werden.
Im Westen herrscht die Auffassung vor, dass nur eine Revolution die Lage verändern kann. Schuld ist auch die Opposition, die immer wieder sagt: Wir werden wie im Westen leben. Doch daran glaubt niemand, denn die Menschen wissen: Die Minsker U-Bahn fährt nicht nach dem New Yorker Fahrplan, sondern nach ihrem eigenen. Das meint Lukaschenko, wenn er sagt: Wir leben so, wie wir das verstehen. Und das Volk folgt ihm darin.
Also haben auch die Opposition und die Demonstranten unterschätzt, wie viel Rückhalt Lukaschenko in der Bevölkerung genießt?
Vor allem die jungen Leute, die demonstriert haben und nun im Gefängnis sitzen, waren ihrer Zeit voraus. Es wäre notwendig gewesen, nicht ein halbes Jahr, sondern fünf Jahre vor den Wahlen mit der Arbeit anzufangen. In einem halben Jahr gewinnt man das Volk nicht für sich. Und die Opposition? Nehmen Sie den Dichter Uladzimir Nekljajew, einen der Präsidentschaftskandidaten. Ein Kolchosarbeiter denkt über den: Schreib lieber deine Gedichte, du kannst doch nicht einmal eine Kuh melken. In der weissrussischen Mentalität zählt nicht der Verstand an sich, sondern eine gewisse Wendigkeit.
Das heißt?
Man darf das Volk nicht überrennen. Man kann ja klüger als das Volk sein, doch letztlich müssen doch die Menschen die Revolution machen.
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