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Kolumne American PieBrutale Erschütterung

Kolumne
von Thomas Winkler

Die Tragödie um den American-Football-Spieler Javon Belcher wirft viele Fragen auf. Er setzte eine seltsame Suizid-Serie von NFL-Profis fort.

Zeugen des Selbstmords beim Spiel danach: Scott Pioli und Romeo Crennel von den Kansas City Chiefs. Bild: dapd

E s war nur ein Spiel zwischen zwei schlechten Football-Mannschaften. Am Ende hatten die Kansas City Chiefs 27:21 gegen die Carolina Panthers gewonnen. Ein Ergebnis ohne Wert, denn Chancen auf die Playoffs haben beide Teams nicht mehr. Die Panthers hatten einer enttäuschenden Saison bloß ein weiteres frustrierendes Kapitel hinzugefügt, die Chiefs nach acht Niederlagen in Folge immerhin mal wieder einen Sieg eingefahren.

Freuen über das seltene Erfolgserlebnis aber wollten und konnten sie sich nicht, hatte sich doch am Tag zuvor eine Tragödie in Kansas City abgespielt. Chiefs-Verteidiger Javon Belcher hatte zuerst seine Freundin Kasandra Perkins, die Mutter seiner dreimonatigen Tochter, mit neun Schüssen ermordet. Anschließend fuhr er zum Trainingsgelände der Chiefs, bat Cheftrainer Romeo Crenell und Manager Scott Pioli auf den Parkplatz, sagte ihnen, er sei ihnen zu großem Dank verpflichtet, und brachte sich dann vor ihren Augen um.

Belcher hat anscheinend keinen Abschiedsbrief hinterlassen und auch sonst keine Erklärungen abgegeben, bevor er die schreckliche Tat beging. Die Ermittlungen der Polizei haben nur ergeben, dass sich der 25-Jährige und seine drei Jahre jüngere Lebensgefährtin zwei Wochen zuvor getrennt haben und immer wieder gestritten hätten. Auch am Samstag war es zum Streit gekommen, bevor Belcher die junge Mutter erschoss. Das Motiv für die Tat ist ungeklärt.

privat
Thomas Winkler

ist Autor der taz und schreibt vor allem über Sport und Popkultur.

Die Erschütterung war groß. Die Spieler der Chiefs beklagten den Verlust einen vorbildlichen Mannschaftskameraden und sein Agent Joe Linta den Tod „eines gütigen, selbstlosen, hart arbeitenden, engagierten Bürgers“. Kollege Andy Studebaker ließ wissen, „Jovan war wie ein Bruder für uns“. Nichts habe im Vorfeld auf die spätere Tragödie hingewiesen. Belcher hätte sich sogar als Mitglied einer Aktionsgruppe gegen häusliche Gewalt engagiert.

So allumfassend war die Trauer und die Liebe, die dem ehemaligen Mannschaftskameraden hinterhergeschickt wurde, dass der ehemalige Football-Profi und jetzige TV-Experte Tom Jackson sich genötigt sah, im Sportkanal ESPN darauf hinzuweisen, dass Javon Belcher „eigentlich ein Mörder ist und ich alle darum bitten möchte, eher Kasandra Perkins zu gedenken“.

Mehrere Gehirnerschütterungen

Die meisten halten sich bislang respektvoll mit Erklärungsversuchen zurück. Im Internet und der nicht ganz so seriösen Presse allerdings wird längst wild spekuliert. Die Sport-Website „Deadspin“, die schon mehrere Skandale enthüllt hat, zitiert aus Mails eines anonym bleibenden angeblichen Freundes von Belcher. Der behauptet, der tote Profi hätte „jede Nacht schwer getrunken“, unter dem Einfluss von Schmerzmitteln gestanden und zuvor mehrere Gehirnerschütterungen erlitten. Nach einem Spiel Mitte November soll er „benommen“ gewesen sein und Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis offenbart haben.

Der Vorfall reiht sich ein in eine bedenkliche Suizidserie. In den vergangenen zwei Jahren haben sechs aktuelle oder ehemalige NFL-Profis Selbstmord begangen, darunter Stars wie Junior Seau. Erst im Juli hatte sich O. J. Murdock von den Tennessee Titans umgebracht.

Mittlerweile darf es als gesichert gelten, dass der Sport zumindest mitverantwortlich ist für die auffällige Häufung von Suiziden. Football ist brutal, viele Spieler erleiden regelmäßig Gehirnerschütterungen, werden alkohol- oder schmerzmittelabhängig und klagen nach dem Ende der Karriere über Kopfschmerzen, Gedächtnisverlust und Schwermut. Bei mindestens 20 verstorbenen Ex-Profis wurde posthum das sogenannte „Boxer-Syndrom“, die Dementia Pugilistica, diagnostiziert, eine Gehirnschädigung, die für Depressionen verantwortlich ist.

Unter Depressionen litt auch Dave Duerson, der die Selbstmordserie im Februar 2011 eröffnete. Der 50-Jährige schoss sich in den Brust und bat darum, sein Gehirn zu examinieren. Mittlerweile ist bewiesen, dass auch er am „Boxer-Syndrom“ litt. Dieser Nachweis wird bei Javon Belcher, der sich mit einem Schuss in den Kopf richtete, schwieriger zu führen sein.

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