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Krisenkurs in SpanienDie Schmerzgrenze ist erreicht

Während das Parlament in Madrid den Sparhaushalt beschließt, kommt es erneut zu großen Protesten. Das Defizitziel wird voraussichtlich verfehlt werden.

„Diebe, Diebe“, riefen die Menschen, die vor dem spanischen Parlament gegen den Sparkurs protestierten Bild: dpa

MADRID taz | Friedhofskerzen vor dem meterhohen Absperrgitter, das seit Monaten das spanische Parlament in Madrids Innenstadt von den Bürgern abschottet: So verabschiedeten Spaniens Empörte das parlamentarische Jahr. Einmal mehr hatten sich am Donnerstagabend Menschen aller Altersgruppen vor dem Parlament versammelt.

Drinnen verabschiedeten die Abgeordneten der konservativen Partido Popular (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy endgültig den Sparhaushalt für das nächste Jahr. Kurz zuvor hatte das Regionalparlament in Madrid das Gleiche getan. Auch hier musste die Polizei die Volksvertretung vor dem Volk schützen.

„Diebe, Diebe“, riefen die Menschen, die vor dem Parlament zusammenkamen: Rentner, deren Bezüge nicht an die Inflation angepasst werden. Beamte, die auf ihr Weihnachtsgeld verzichten müssen. Arbeitslose, deren Zahl unter Rajoy täglich um 1.350 zunahm. Opfer der Bankensanierung, die sich hatten überreden lassen, in sogenannte Vorzugsbeteiligungen zu investieren, und jetzt bei der Bankensanierung 12 Milliarden Euro verlieren.

Es war das Ende eines Monats, in dem in Spaniens Hauptstadt kaum ein Tag ohne Streik verging. Im öffentlichen Nahverkehr geht es um Arbeitsplätze und Löhne. In den Krankenhäusern, wo die Ärzte seit knapp zwei Monaten nur Notoperationen und Krebsbehandlungen garantieren, gegen die Privatisierung von 27 lokalen Gesundheitszentren und 6 Kliniken. Trotz einer Million Unterschriften – bei sechs Millionen Madrilenen – hält die Regionalregierung an ihren Plänen fest.

„Mafiöse Machenschaften“

Über 100 Direktoren von Kliniken und Gesundheitszentren legten daraufhin am Donnerstagabend nach der Abstimmung im Regionalparlament ihre Ämter nieder. Was sie am meisten empört: Die Regionalregierung erklärt immer wieder, dass eine Privatisierung Kosten sparen würde. Doch hat sie keinerlei Zahlen, die das belegen. Das seien „mafiöse Machenschaften, um das Geschäft mit der Gesundheit an Freunde zu verschachern“, finden die Betroffenen.

Im endgültig verabschiedeten Haushalt der Zentralregierung wird erstmals mehr Geld für die Zinsen der Staatsverschuldung bereitstehen als für die laufenden Kosten aller Ministerien zusammen. Es sind 38 der insgesamt 124 Milliarden Euro, doppelt so viel wie noch vor drei Jahren. Der Sparkurs soll verhindern, dass Spanien als Ganzes unter den Eurorettungsschirm schlüpfen muss.

Trotz des harten Sparkurses wird das Defizit Ende 2012 wohl höher als die versprochenen 6,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt liegen. Die Regierung hofft, knapp unter 7 Prozent zu bleiben. Schuld daran sind zu hohe Ausgaben in den Regionen, die für Gesundheit und Bildung zuständig sind.

Neun sind mittlerweile unter der Zinslast zusammengebrochen und haben um Hilfe beim spanischen Rettungsfonds in Madrid gebeten. Weitere Regionen werden wohl zu Jahresbeginn folgen. Brüssel überwacht Spanien genau. Denn Spanien hat bereits 100 Milliarden Euro genehmigt bekommen, um seine Banken zu sanieren; 39 Milliarden Euro wurden bereits überwiesen.

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4 Kommentare

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  • G
    Gabriel

    Hier die Entwicklung des Bruttosozialprodukts, nördliche und südliche europäische Länder

    (2011, 2010, 2009, jeweils):

    Polen 4.3%, 3.9%, 1.6%

    Estland 7.6%, 2.3%, -14.3%

    Irland 1.4%, -0.8%, -5.5%

    Island 3.1%, -4%, -6.8%

    Griechenland -6.9%, -3.5%, -3.3%

    Spanien 0.4%, -0.3%, -3.7%

    Italien 0.4%, 1.8%, -5.5%

    Portugal -1.7%, 1.4%, -2.9%

     

    Das wäre jetzt hochinteressant, wenn die TAZ den Unterschied zwischen den nord- und südeuropäischen Ländern analysieren könnte.

  • T
    Teermaschine

    @) Gabriel

     

    Das kann Dich doch nicht wirklich wundern, oder? - Die Erinnerung an sozialistische Segnungen ist einfach noch zu frisch.

    Da fällt der Unsinn im Süden auf ungleich fruchtbareren Boden, zumal man dort bis zur Osterweiterung alleiniger Empfänger der EU-Hilfsgelder war. Zwar schwadroniert die Linke gerne über die Grenzen des Wachstums, aber in der Krise verlangt man Stimulation, gleich ob es sich um eine konjunkturelle oder eine strukturelle Krise handelt.

  • T
    touché

    @Gabriel: Du hast recht, die Berichterstattung ist auch regional ziemlich unausgewogen. Ich glaube, dass es daran liegt, dass die wenigen wirtschaftskompetenten TAZler den Krisenerscheinungen und Reaktionen hinterherhecheln, je nachdem wo sie gerade spürbar werden.

     

    Ergänzend wäre es notwendig, eine Redaktionsgruppe für die zentrale Grundsatzanalyse einzurichten, die den Lesern einen zutreffenden Begriff von allen Ursachen und Merkmalen in zumindest allen europäischen Ländern gibt - im Zeitalter der Globalisierung eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

     

    Mit zunehmender Zeit, Tiefe und räumlicher Ausdehnung der Krise wächst das Informations- und Orientierungsbedürfnis der Menschen gleichsam dramatisch.

    Wenn es nicht die geistige Begrenztheit der Chefredaktion wäre, die der inneren Qualitätsentwicklung der TAZ diametral entgegenstünde.

    Schade um die große Chance, aus einer oppositionellen Spielwiese eine ernstzunehmende Zeitung zu formen, gell Frau Pohl ?

  • G
    Gabriel

    Zum 100Tausensten Mal berichtet die Taz von den Protesten in den EU-Mittelmeerländern. Wie immer keinerlei Berichterstattung von nordeuropäischen Krisenländern und wie dort mit der Krise umgegangen wird, Irland, Island, Baltikum, oder über Polen, oder Osteuropa, wie die Slowakei, nichts, nichts, nichts. Hatten die Slowaken nicht gemeckert, dass sie für die Griechen bürgen sollen? Und was ist in Rumänien, uninteressant. Wie geht's den Bulgaren, uninteressant. Höchstens mal ein Bericht über die Minderheit der Roma, nichts über die Mehrheit der Bevölkerung dort. Aber nonstop über die alten EU-Länder im Süden.