piwik no script img

Kommentar Vergewaltigungen in IndienDie Mittelschicht ist nicht besser

Georg Blume
Kommentar von Georg Blume

Nirgendwo ist die Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Doch sie ist auch in den Mittelschichten verbreitet.

Tatsächlich demonstriert bisher vor allem eine intellektuelle Avantgarde aus dem Universitäts- und Aktivistenmilieu – Demo in Neu Delhi am 2. Januar. Bild: reuters

D er Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen ist einer der wenigen indischen Intellektuellen, die dem verführerischen Diskurs einer neuen Moderne Indiens nicht folgt. Doch hat er die Ewiggestrigen seines Landes nun gemahnt, Vergewaltigungsverbrechen nicht als Erfindung der modernen Gesellschaft hinzustellen. „Wer sagt, Vergewaltigungen gäbe es nur in Städten und nicht in Dörfern, vergisst all die Frauen der Unberührbaren-Kaste, die fortwährend vergewaltigt werden.“

Tatsächlich ist nirgendwo die gesellschaftlich geduldete Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Die Vergewaltigung des unberührbaren Dienstmädchens ist notorisch.

Doch darüber hat sich noch nie jemand aufgeregt. Hier, in der doppelten Unterwürfigkeit von Frau und niedrigem Kastenmitglied, ist die Wurzel für Indiens oftmals ungehemmte Männergewalt.

Nicole Sturz
GEORG BLUME

berichtet seit 2009 für die taz und die Zeit aus Indien und Pakistan. Davor arbeitete er von 1990 bis 1997 als Korrespondent in Tokio und danach 12 Jahre in Peking, wofür ihm 2007 der Liberty Award verliehen wurde.

Trotzdem greift auch Sens Kritik zu kurz. Denn die Gewalt gegen Frauen hat gerade in der prosperierenden Mittelschicht, die jetzt von vielen etwas voreilig als Schoß der Proteste gefeiert wird, ihren neuen Nährboden gefunden. Tatsächlich demonstriert bisher vor allem eine intellektuelle Avantgarde aus dem Universitäts- und Aktivistenmilieu, nicht die gerade zu etwas Geld gekommene Arbeiter- oder Angestelltenfamilie.

In ihr aber setzt sich in Indien heute ein neues materielles Wertesystem durch, in dem der Sohn als Stammhalter immer noch weit oben rangiert, die Tochter aber oft erst auf Eigentumswohnung und Auto folgt. Also treibt man sie lieber ab. Das geschieht heute viel häufiger in den Städten als auf dem Dorf. Bis zu 85 Millionen Frauen sind nach Forschungsberichten auf diese Weise allein in Indien und China verschwunden. Ihr Fehlen wird die Gewalt gegen Frauen weiter ansteigen lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Georg Blume
Auslandskorrespondent Indien
Georg Blume wurde 1963 in Hannover geboren und ist gelernter Zimmermann. Er leistete seinen Zivildienst in einem jüdischen Kinderheim sowie in einem Zentrum für Friedensforschung in Paris. Danach blieb Georg Blume in Frankreich und wurde Korrespondent der taz. 1989 wurde er Tokio-Korrespondent der taz, ab 1992 auch für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Von 1997 bis 2009 lebte er in Peking, wo er ebenfalls als Auslandskorrespondent für die ZEIT und die taz schrieb, seit August 2009 ist er für die beiden Zeitungen Korrespondent in Neu-Delhi. Bekannt geworden ist Georg Blume vor allem durch seine Reportagen über Umweltskandale und Menschenrechtsverletzungen in China. Für dieses Engagement erhielt er 2007 den Liberty Award, mit dem im Ausland tätige Journalisten für ihre couragierten Berichterstattungen gewürdigt werden. 2012 wurde er mit dem Medienethik-Award META der Hochschule der Medien in Stuttgart ausgezeichnet. Publikationen: „Chinesische Reise“, Wagenbach, Berlin 1998. „Modell China“, Wagenbach, Berlin 2002. „China ist kein Reich des Bösen“, Körber, Hamburg 2008.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • C
    Caro

    Indien ist nicht Bollywood!

     

    Lange genug hat es gedauert, leider nun zu einem unfassbar traurigen Anlass:

    Ein kritischer Blick auf Indien.

    -Das Kastensystem ist "in real life" existent.

    -Die "Unberührbaren" werden nie, nie eine Uni besuchen können.

    -Sie werden gesellschaftlich nie aufsteigen können.

    -In Indien verbrennt man Frauen und treibt Töchter ab.

    -In Indien liegt gesellschaftlich einiges im Argen.

    -Die "aufstrebende Wirtschaftsmacht" Indien wurde auf Kosten der Armen (die die Mehrheit stellen) reich.

    (Ich erinnere an "Miseor" und die verhungernden Kinder, aber Geld für die Atombombe war vorhanden!)

    -Wäre dies einer Unberührbaren geschehen, hätte es dieses Aufsehen leider nicht gegeben.

     

    ABER:

     

    WEDER IN DER taz NOCH IN DER EMMA, NOCH IN DEN ANDEREN MEDIEN, DIE JETZT VIEL UND LANGE ÜBER INDIEN SCHREIBEN, WURDE ÜBER DIE GRUPPENVERGEWALTIGUNG

     

    IN BERLIN

     

    UND DAS MENSCHENVERACHTENDE URTEIL DAZU BERICHTET ODER KOMMENTIERT: KEINE AUFREGUNG ---NICHTS!

    Hier: http://www.tagesspiegel.de/berlin/neukoelln-bewaehrungsstrafe-nach-sexuellem-missbrauch-wirft-fragen-auf/7505196.html

     

    Darüber sollten sich alle einaml Gedanken machen!!!

  • SB
    Siegfried Bosch

    Was für ein sexistischer Kommentar, der Gewalt gegen Männer schlicht ignoriert, ja durch die Verwendung von Begriffen wie "Männergewalt" implizit als inexistent darstellt; und was ist mit Täterinnen? Die kommen hier nicht vor.

    @synoptiker: Das Kastenwesen ist schon längst gesetzlich abgeschafft.

  • H
    Horsti

    Nirgends in Indien ist die Gewalt gegen Männer größer als in der Unter- und Mittelschicht.

    Und nun?

  • L
    lil

    Ich glaube nicht, das Akzeptanz die Welt hier weiterbringt. Die Situation ist ein Verstoß gegen den Menschen selbst und kann auch erneut zu einer Hinterfragung der Rolle der Frauen in Deutschland führen.

     

    Rassismus strukturiert unsere Gesellschaft - das ist wahr. Trotzdem bin ich sehr froh, dass der Nationalsozialismus nicht als deutsche kulturelle Eigenheit angesehen wurde. Und wer sagt schon: ich bin brutal vergewaltigt worden, aber das gehört nun einmal zu meiner Kultur? (Kultur-naturalisieren-gefährlich)

     

    In dem Sinne Solidarität und MItgefühl mit den Frauen, Männern und Kindern in Indien, die sich für ein gewaltfreies Miteinander und für mehr Respekt gegenüber den Geschlechtern einsetzen!

  • S
    Siegfried

    Herzlichen Dank für diesen Artikel. Menschen, die andere Menschen vergewaltigen zählen für mich zu den Bestien der Menschheit. Die Not der Opfer wird überall auf der Welt ignoriert. Es wird Zeit die Thematik Vergewaltigung gänzlich ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren und die Täter empfindlich zu bestrafen.

    Raten Sie mal, was die beste Abschreckung sein könnte?

  • S
    supertricky

    Ach,könnten doch alle Oberschicht sein!

  • N
    Neo

    Die Demokratie besteht aus Legislative-Exekutive-Judikative-4Gewalt Pressefreiheit und der UN-Menschenrechtscharta

    Die Legislative und Exekutive hat die Möglichkeit entsprechend tätig zu werden.

    Mutige Menschen in Indien gründen vielleicht eine Stiftung, die autonome Frauenhäuser gründet und finanziert, wo verfolgte Frauen einen sicheren Schutz finden vor gewaltätigen Männern.

     

    Neo, die Unbestechlichen

     

    PS.: Schöne Gruesse von Lisbeth

  • S
    Synoptiker

    Fast möchte man die Taz ausnehmen, aber generell haben die deutschen Medien das Thema Frauen, ihre Unterdrückung, Geringschätzung, Ausbeutung und Vergewaltigung zu wenig thematisiert. Besonders die bürgerlichen Leitmedien haben das hohe Lied der Demokratisierung Indiens gesungen und so Indien gegenüber China als vorbildlich hingestellt. Der Autor zeigt nun auf, dass selbst die aufstrebende Mittelschicht keinen Deut besser ist. Das Los der Frauen wird sich nicht ändern, wenn nicht das steinzeitliche Kasten-Unwesen gesetzlich abgeschafft und mit Strafen belegt wird. Der Tod der Studentin, die aus der Mittelschicht kommt, könnte bestenfalls als Initialzündung für schnelles Handeln nachträglich noch einen sinn machen. Der Westen muss hier generell mehr Menschenrechte einfordern!

  • N
    naseweiser

    Gott schuf den Mann nach s e i n e m Bilde . Meine Güte , muß das ein Arschloch sein !

     

    Ach ja . Die Frau schuf er auch . Nachträglich , aus der Rippe des ersten Mannes .

  • K
    Kimme

    Mal ganz davon abgesehen, dass ich Gewalt ablehne,möchte ich mal ganz provokant fragen: Handelt es sich dabei in Indien nicht um gewachsene kulturelle Eigenheiten, die wir als Westeuropäer akzeptieren sollten? Nicht dass man uns am Ende noch Rassismus und Intolleranz vorwirft.

    (Wer Ironie findet darf sie behalten)