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Regisseur Seidl über Spiritualismus„Wann sagt sie nichts und horcht?“

In Ulrich Seidls neuen Film „Paradies: Glaube“ besucht die fiktive Figur Anna Maria reale Menschen zuhause. Über Katholizismus der Hauptfigur und unterdrückte Sexualität.

Die katholische Missionarin Anna Maria geht so weit, sich mit dem Kreuz zu befriedigen. Bild: Neue Visionen Filmverleih
Cristina Nord
Cristina Nord
Interview von Cristina Nord und Cristina Nord

taz: Herr Seidl, wenn Sie Ihren Film „Jesus, du weißt“, in dem real existierende Gläubige über ihren Glauben sprechen, mit „Paradies: Glaube“, der einem Drehbuch folgt, vergleichen, worin liegt dann der Unterschied?

Ulrich Seidl: „Jesus, du weißt“ ist weniger fiktiv, ganz eindeutig, sehr nahe an dokumentarischen Filmen. Dagegen sind „Paradies: Glaube“ oder auch „Paradies: Liebe“ ganz am anderen Ende, das sind geschriebene Geschichten, die von den Schauspielern wie von den Laien transportiert werden. Bei „Jesus, du weißt“ spielen sich die Menschen selbst, es sind ihre eigenen Schicksale, von denen sie reden.

Was passiert denn, wenn in „Paradies: Glaube“ eine fiktive Figur, Anna Maria, in einen Raum hineintritt, der in der Wirklichkeit existiert? In die Wohnung von Herrn Rupnik? Wenn die fiktive Figur also auf jemanden trifft, den es im echten Leben gibt?

Es passiert das, was ich eigentlich suche, die Absicht der Inszenierung wird mit dem Zufallsprinzip in Verbindung gebracht. Alle Szenen mit Nabil Saleh und Maria Hofstätter sind ja spielfilmartig, und um dort wieder hinauszukommen, geht Maria Hofstätter in Wohnungen, in denen gar nichts vorbereitet ist. Das reizt mich, weil dabei spannendere Dinge entstehen, als wenn ich die Szenen schreiben würde.

Wie geht das denn konkret vonstatten? Maria Hofstätter geht von Tür zu Tür, klingelt, lässt sich überraschen, Sie drehen und suchen sich hinterher aus, was am besten passt?

Genau.

dpa
Im Interview: Ulrich Seidl

Ulrich Seidl, geboren 1952, ist Film- und Theaterregisseur und lebt in Wien. Sein kontrovers diskutiertes Oeuvre bewegt sich zwischen Dokumentar- und Spielfilm. „Tierische Liebe“ (1995), „Models“ (1998) oder „Jesus, du weißt“ (2003) zum Beispiel erzählen von Menschen, die es wirklich gibt, und von Situationen, die diesen Menschen tatsächlich widerfahren, aber der Wille zur künstlerischen Gestaltung – etwa zur symmetrischen Bildkomposition – ist unverkennbar.

In den Spielfilmen – in „Hundstage“ (2001), „Import Export“ (2007) und in der „Paradies“-Trilogie (2012) – wiederum gibt es immer wieder Szenen, in denen Laiendarsteller agieren, und das nicht in einem Filmset, sondern an wirklichen Schauplätzen. Wer mehr über Seidl erfahren möchte, dem sei Stefan Grissemanns Buch „Sündenfall“ ans Herz gelegt (Sonderzahl Verlag, Wien, 346 Seiten, 25 Euro).

Zum Beispiel das Paar, das sich so leidenschaftlich für die wilde Ehe ausspricht …

Das ist ausgesucht. Wir haben uns natürlich vorher überlegt, mit welchen Menschen man Szenen bauen könnte. Es ist so ähnlich wie in „Hundstage“, wo Maria Hofstätter autostoppend unterwegs ist. Auch da haben wir die Menschen ausgesucht, die in ihrem eigenen Auto gefahren sind und nicht wussten: Was wird passieren. Maria Hofstätter hat es gewusst, und genau so war’s hier auch.

Drehen Sie das ein einziges Mal?

Nein. Bei der Szene, die Sie erwähnt haben, haben wir einmal gedreht, und es hat nicht geklappt. Dann sind wir wieder hingegangen, dreimal, glaube ich, waren wir dort.

Und wie war es bei Herrn Rupnik, der ja schon in anderen Filmen von Ihnen vorkam?

Also, ich mache Probevorgänge, die Kamera geht hinein, Maria Hofstätter auch, und ich sehe, dass er Blödsinn redet. Dann sage ich: „Herr Rupnik, das sagen wir bitte alles nicht, das lassen wir weg.“ Und der Maria sag ich: „Du musst versuchen, dem Rupnik viel Raum zu geben.“ Das ist für sie schwierig bei der Improvisation – zu wissen: Wann sagt sie etwas? Wann sagt sie nichts und horcht?

In „Jesus, du weißt“ werden der Glauben und die Frömmigkeit der Protagonisten sehr ernst genommen, so ernst, dass ich als Nichtgläubige eine Ahnung davon bekomme, was sie um- und antreibt. Das ist für mich damit verbunden, dass diese Menschen existieren. Bei einer fiktiven Figur stellt sich das etwas anders dar, die entspringt schließlich Ihrer Fantasie.

Na ja, im besten Fall sollte es so sein, dass sich diese Frage nicht stellt. Sie müssten die fiktive Figur als reale annehmen, und wenn Sie sie nicht ganz annehmen können, dann hat es vielleicht für Sie nicht funktioniert. Vielleicht sollte man das auch so nicht denken, denn man nimmt dann ja alles für bare Münze, wenn man sich einen sogenannten Dokumentarfilm anschaut. Und beim Spielfilm sagt man: „Ach, das ist ja nur ausgedacht.“ Aber so einfach ist ja nicht.

Trotzdem: In meinen Augen waren die Figuren in „Paradies: Glaube“ und auch schon in „Paradies: Liebe“ zu sehr auf eine bestimmte Art konstruiert, zu eng gefasst.

Ich verstehe, was Sie meinen, aber ich sehe es nicht so. Ich erzähle etwas zu einem bestimmten Thema, und ich glaube, dass ich das im Fall von „Paradies: Liebe“ mit der Figur der Teresa ausgelotet habe. Und Margarethe Tiesel, die Darstellerin, hat das eins zu eins rübergebracht. Ich weiß nicht, ob Sie von Künstlichkeit sprechen. Oder von Nicht-Glaubwürdigkeit.

Eher davon, dass die Figuren zugespitzt sind, so wie Anna Maria in „Paradies: Glaube“ sehr aufgeht in ihrer religiösen Hingabe.

Sie ist sehr strikt, ja. Unnahbarer und weniger nachvollziehbar. Es geht ein bisschen mehr ins Extreme, man kann es leichter verstehen, wenn eine Frau wie Teresa nach Afrika geht und Männer sucht, als wenn jemand wie Anna Maria so weit geht, sich mit dem Kreuz zu befriedigen.

Tut sie das denn wirklich? Man muss die Szene ja gar nicht so eindeutig lesen.

Es ist so gedacht, so angesetzt, dass der Zuschauer es sich im Kopf weiterdenken kann.

Warum war das nötig?

Es geht ja auch in dieser Geschichte um Sexualität, das fängt ja schon damit an, dass sich Anna Maria schlägt und so für die schmutzige Welt büßt, die von Sexualität besessen ist. Aber sie ist ja nicht frei davon, diese Unterdrückung, diese Tabuisierung der Sexualität bewirken ja oft das Gegenteil.

Den Menschen, die aufgrund von Glaubensgrundsätzen oder Erziehung sexuell unterdrückt werden, erwächst eine besondere Lust. Und so sehe ich diese Figur. Nicht umsonst kommen in der katholischen Kirche all diese Missbrauchsfälle vor, man glaubt es ja nicht.

Die kommen in evangelischen oder in anderen Institutionen auch vor, etwa in der Armee.

Das ist ein zweiter Aspekt, natürlich. Aber gerade bei der Kirche ist es auffällig, weil die ja die Tabuisierung seit Jahrhunderten zum Thema macht. Und ich meine nicht nur den Missbrauch, der kommt in allen Institutionen vor, das ist schrecklich, selbst in pädagogisch liberalen, wie wir wissen, in Deutschland. Oder in sozialistisch geführten Heimen, unfassbar. Aber es gilt ja auch unter Priestern – freiwillig gelebte Sexualität in der Kirche gibt es nicht.

Das Bedürfnis zu verbieten, ist ja möglicherweise nichts anderes als eine hilflose Reaktion darauf, dass mit der Sexualität eine Kraft in uns steckt, die wir nicht vollständig kontrollieren können.

Ja. Ich bin öfters gefragt worden, warum Sexualität so eine große Rolle in meinen Filmen spielt. Weil ich genau das glaube, was Sie sagen: Das ist ein Trieb, der unser Leben bestimmt. Ob wir das wollen oder nicht.

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