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Gaseinsatz bei Protesten in der TürkeiIm Krieg verboten, bei Demos erlaubt

Greenpeace hat untersucht, welches Gas die türkische Polizei gegen Demonstranten eingesetzt hat. Die Spur führt zu einem Markt im Verborgenen.

Mögliche Folgen des Gases: Hautprobleme, Atemprobleme, Genveränderungen, oder gar Tod durch Lungenversagen. Bild: dpa

BERLIN taz | Die Bestellung kam am vergangenen Wochenende. 43 Tonnen Gas, eine Eillieferung aus den USA. Der Kunde: die türkische Regierung. Unvergessen die Bilder aus Istanbul, Straßen voller Tränengaswolken, Menschen mit Verbrennungen, die Frau im roten Kleid, die von einem Polizisten mit Gas attackiert wird. Was aber war das für eine Substanz, die mit solch großem Schaden eingesetzt wurde?

Greenpeace sammelte die Kanister von den Straßen, die türkische Ärztekammer untersuchte die Chemikalien darin. Klar ist inzwischen: Eingesetzt wurden das in Deutschland als Tränengas bekannte CS-Gas und das stärkere OC-Gas, besser bekannt als Pfefferspray.

Beide Gase sind aufgrund der UN-Chemiewaffenkonvention seit 1997 für den Gebrauch im Krieg verboten. Gegen ihre eigenen Bevölkerungen dürfen Regierungen sie aber einsetzen. Mindestens 110 Länder nutzen verschiedene Mittel zur „crowd control“ („Kontrolle von Menschenmengen“), insbesondere Gase. Welches Land aber welche Vorräte hat, ist schwer herauszufinden.

Laut der türkischen Zeitung Sozcu hat alleine die Türkei seit 2000 für 21 Millionen Dollar 682 Tonnen Tränen- und Pfeffergas importiert, vor allem aus den USA und Brasilien. „Gerade die USA sind der wichtigste Hersteller dieser Chemikalien. Brasilien spielt auch eine große Rolle“, sagt die US-Medienwissenschaftlerin Anna Feigenbaum.

Die Hemmschwelle ist gesunken

Sie beschäftigt sich schon lange mit dem Markt der Anti-Terrorismus-Technologien. „Auf einmal fingen die Firmen im großen Stil an, diese ’crowd control agents‘ aggressiv anzupreisen“, sagt Feigenbaum. „Historisch ist so auch der Markt nach dem Zweiten Weltkrieg erst entstanden: nicht über die Nachfrage, sondern über das systematisch beworbene Angebot aus den USA.“ Feigenbaum hat viele Indizien, dass die Nutzung dieser Chemikalien seitdem auch stark zugenommen hat. „Die Hemmschwelle ist gesunken.“

Abgesehen von der Werbung geben die Herstellerunternehmen nichts von sich preis. „Das ist der Trumpf der Industrie: die hohe Dunkelziffer“, beklagt Ali Issa von der amerikanischen „Facing Tear Gas“-Kampagne. Sie will die Aufmerksamkeit auf die Gefahren der relevanten Chemikalien lenken. „Die Branche bleibt unter sich. Und Regierungen sind nicht gezwungen, Informationen herauszugeben.“

Über den öffentlich einsehbaren Lebenslauf eines Managers der brasilianischen Firma „Condor“, die auch an die Türkei lieferte, bekommt man einen kleinen Einblick, um welche Summen es geht: Condor hat einen jährlichen Umsatz von 50 Millionen US-Dollar. Für die Branchenführer in den USA gibt es allerdings keine Zahlen.

Schädliche Nebeneffekte

Zum Tränengas gibt es schon zahlreiche Studien, die eine Reihe schädlicher Nebeneffekte nachweisen, darunter Hautprobleme, Atemprobleme, Genveränderungen und in extremen Situationen Tod durch Lungenversagen. Pfeffergas ist nicht ganz so gut erforscht, doch hier warnen die Wissenschaftler vor dem noch höheren Risiko – insbesondere bei Risikogruppen wie etwa Asthmatikern.

Dennoch dürfen diese Chemikalien laut UN-Chemiewaffenkonvention zur „crowd control“ eingesetzt werden. Als „nicht tödlich“ werden sie eingestuft, sofern Demonstranten nur einer bestimmten Dosis ausgesetzt werden. Das Feuern von Gas in geschlossenen Räumen gilt als inakzeptabel.

Obwohl die Türkei in den vergangenen Jahren große Gasvorräte angelegt hatte, waren wegen des intensiven Einsatzes im Juni nun offenbar Nachschublieferungen nötig. Denn es fanden sich Tränengasbomben mit überschrittenem Haltbarkeitsdatum. „Da sieht man, wie der Markt funktioniert“, erklärt Feigenbaum. „Vermutlich hat die Türkei Nachlieferungen aus umliegenden Ländern bekommen, die dort seit Jahren gelagert wurden.“ Das sei ein weiteres Problem bei der Recherche: „Ein Löwenanteil funktioniert über Wiederverkäufe, aber das läuft alles unter unserem Radar.“

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14 Kommentare

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  • G
    Gerda

    Als bewußte, strikt friedliche Gegenwehr gegen alle Polizeigewalt und Militärgewalt hat mir sehr gefallen, daß - auf Anregung des einen türkischen Performance-Künstlers - die Menschen in Istanbul und anderen Großstädten plötzlich ganz still und schweigend dagestanden haben.

    Oder ein Konzert organisierten und dazu gepicknickt haben.

    Oder gegen Einbruch der Dunkelheit mit Löffeln auf Töpfe und Pfannen geschlagen haben.

     

    Als stillen Protest könnten auch Kerzen in die Fenster gestellt werden!

     

    Aus friedlichem Protest könnten auch die Jungen und Alten das Lied "Let the sunshine in ..." aus dem Musical "Hair" auf den Plätzen anstimmen und singen. Das kennt die ganze Welt!

  • G
    Gerda

    Von Greenpeace und Amnesty International sollte auch das Wasser der Wasserwerfer untersucht werden! Ich kann mir gut vorstellen, daß das Wasser kein teures Trinkwasser ist, sondern auch mit schwer gesundheitsschädlichen Substanzen "angereichert" worden ist - oder demnächst noch wird!

     

    Adé schöne freie und demokratische Demonstrationsfreiheit, Protest- und Meinungsfreiheit!

     

    Was kann dagegen von der freiheitlich, demokratisch und gewaltfrei gesinnten "Jugend der Welt" unternommen werden?

  • LF
    Lambros Fountas

    Brutaler Angriff auf Solidaritätsdemo für den fast 40 Tage hungerstreikenden Anarchisten Kostas Sakkas - inzwischen bedingt auf Kaution und in kritischem Zustand entlassen.

    Die berühmt-berüchtigten Schläger der Motorradeinheiten DIAS und DELTA (Den Begriff "IRANISCHE REITER" liebt die Polizeigewerkschaft!) setzen allerdings nicht nur Tränengas ein, sondern auch Blendschockgranaten und das alles mitten im Touristengebiet der Plaka, aber die da sind ja EU-Mitgleid und nicht Türkei, die dürfen das und die korrupten deutschen Journalisten dürfen das auch gerne verschweigen, sonst können sie sich ihre Luxuswagen und Eigentumswohnungen bald nicht mehr leisten.

    http://blog.occupiedlondon.org/2013/07/10/video-police-attacks-peaceful-solidarity-demo-to-kostas-sakkas-underneath-the-acropolis/

    Und hier greifen DIAS Schergen mal wieder zusammen mit den Neonazis von X.A. ein soziales Zentrum an:

    http://blog.occupiedlondon.org/2013/07/12/video-dias-motorcycle-police-accompany-golden-dawn-members-to-attack-the-open-social-space-sinergeio-in-ilioupolis-athens/

  • G
    Greenwar

    Soweit uns bekannt, wollte die Ärztekammer Griechenlands nach den Einsätzen verschiedenster Chemikalien bei den Kämpfen am Syntagma-Platz 2011 auch Forschungen anstellen, was ist da bloß draus geworden?

    Abgelaufene Kanister fanden Aktivisten bereits bei der Dezember Revolte 2008, u.a. übriggebliebenes CS-Gas aus Wackersdorf 1986.

  • V
    Völkerrecht

    Gleiches gilt für die sprachlich verniedlichte Mann-Stopp-Munition.

    Bevor die Polizeitruppen ausrücken, bestimmt der Einsatzleiter welche Art von Munition benutzt wird. Blau oder Rot.

    Ein Rettungswagen wird bei einer Munitionssorte nicht mehr benötigt, der getroffene wird von aussen nicht sichtbar innerlich zerfetzt. Wirkung wie ein Dum-Dum Geschoss.

    Das Innenministerium von Thüringen war Vorreiter für die Einführung dieser Munition in Deutschland.

    Höchstes deutsches Gerichtsurteil, es ist ein polizeilich artgerechtes Töten von Menschen.

    Das Militär darf solche Munition aufgrund des humanitären Völkerrechts nicht nutzen.

     

    Bleibt nur die innenpolitisch peinliche Frage wie weit demokratische Länder das humanitäre Völkerrecht beachten müssen.

  • T
    tim

    du geistiger brandstifter und internetclown, deines zeichens feiger tastaturheld, bist einer der unerträglich nationalistisch veranlagten, unliebsamen und nichtssagenden nutzer der kommentarfunktion.

  • B
    bull

    Der Türkenschlächter Erdogan hat nur eine Strafe verdient.

  • B
    BrainwashWestMedia

    Was für ein Chemischer Kampfstoff in Ägypten gegen die militärisch geputschten Mursi anhänger benutzt würde mich eher Interessiern!!!

  • BA
    überall auf der Welt

    ja, ich kritisiere die hier hergestellte Verbindung zur Türkei: sie ist willkürlich.

     

    CS, CR- und CN-Gas wird eingesetzt

    - in Deutschland, gegen die Demonstrationen von Linken, wie z.B. in Rostock 2007.

    - in Ägypten

    - in Brasilien

    - in den meisten Ländern der Welt gegen DemonstrantInnen mit Wasserwerfern.

     

    In Frankfurt würde gegen die Demo gegen die EuroKrisenpolitik am 1.06. Pfefferspray eingesetzt.

    v.a. bewegliche kleinere Einheiten der Polizei wie die BFE setzen Pfeferspray ein. Das ist ein Öl-Gemisch, und kein Aerosol.

  • N
    neuroneo

    Der Nachschub kam aus Brasilien.

  • RB
    Rainer B.

    Da sieht man doch mal wieder, wie ungenau die Grenzlinien von Krieg und Frieden heute verlaufen und wie wenig die Bevölkerung den Herrschenden jenseits von Wahlen wert ist.

    Meine Skepsis gegenüber Amerika ist seit dem Vietnamkrieg auch nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Nur ein Vorurteil??

  • A
    Anmerkung

    Anmerkung:

     

    Die erwähnten Begriffe "Tränengas" und "Pfeffergas" sind Euphemismen, die eine vermeintliche Harmlosigkeit der Stoffe suggerieren. Was diese anrichten können, hat

    der Artikel ja deutlich gemacht. Zumal speziell der Begriff

    Pfeffergas irreführend ist, er entstammt dem engl. "pepper gas" bzw. "pepperspray" im engl. bedeutet aber "pepper" auch Chillischote. Und genau diese ist auch gemeint. Es handelt sich also um einen Übersetzungsfehler der von vielen Medien un-/absichtlich nachgeplappert wird.

    Den deutlich harmloseren Pfeffer wird man dagegen im Pfeffergas nicht finden.

  • R
    REalist

    Was glauben sie denn, was die Staatsschergen hier in Deutschland gegen unliebsame Bürger einsetzen?

     

    Was mag wohl in einem Polizei Beamten vorgehen wenn befohlen wird Gas oder Knüppel gegen Bürger einzusetzen? Haben diese Beamten eigentlich ein Hirn im Kopf. Gibt es bei den Staatsschergen eigentlich sowas wie eine Reflektion des eigenen Handelns? Wohl kaum. Anders kann ich mir diesen blinden Kadaver Gehorsam nicht vorstellen. Man kann sich ja, wenn alles aufgearbeitet wird, hinter Befehlen verstecken, wie auch nach dem Ende des 3. Reiches.

     

    Überall auf diesem Planeten, wo Bürger unterdrückt, gequält, verschleppt und gefoltert werden ist eine bestimmte Berufsgruppe gehorsam und beflissen dabei die Befehle ihrer Herren auszuführen: die Polizei!

  • K
    Karl

    Wieder mal ein Artkel der vor allem mies und töricht ist.

     

    Keine Zeit mehr für Recherche?

     

    Natürlich wird kein "Gas" im pysikalischen Sinne des Aggregatzustandes verwendet. OC umfasst durchaus eine ganze Grupe von Wirkstoffen, die Familie der Vanillylimide. Diese sind als schwebfähige Partikel wirksam, was für den Atemschutz und die Dekontamination zu wissen nicht ganz unwichtig ist.

     

    Es ist müßug über die Herkunft zu philospohieren, das ist lediglich eine Kostenfrage und es gibt auch mind. eine türk Fa. die OC aus Naturstoffen extrahiert anbietet. OC kann, muss aber nciht synthetisch hergestellt werden.

     

    Um zur Wirkung zu kommen muss die Substanz hinreichend fein verstäubt werden. Lungengängige Partikel wirken optimal werden aber mit dem WaWe nicht erreicht. Dazu sind pyrotechnische Mischungen recht anspruchsvoller Zusammensetzung erforderlich. Das ist auch eine Frage der HAltbarkeit solcher Munitionen, denn bis auf des CN sind alle Reizstoffgruppen chemisch recht reaktiv.

     

    "Verborgen" ist dabei so gut wie nichts, außer in den Hirnen von Personen die "Chemie" schon zum frühmöglichsten Zeitpunkt in der Schule abgewählt haben....

     

    Glück auf!

     

    Karl