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Kommentar Joachim GauckPräsident im Blindflug

Daniél Kretschmar
Kommentar von Daniél Kretschmar

Gauck sorgt sich um die Wahlbeteiligung und ist über den NSA-Skandal beunruhigt. Den Zusammenhang zwischen beidem will er aber nicht sehen.

Immer für einen Gästebucheintrag zu haben: der Bundespräsident in Litauen. Bild: dpa

G ut anderthalb Monate hat Joachim Gauck, gebraucht, seiner Beunruhigung über die geheimdienstliche Totalüberwachung des Internet- und Telefonverkehrs Ausdruck zu verleihen. In einem Interview mit der Passauer Neuen Presse nötigt sich der Bundespräsident sogar eine vorsichtige Respektsbekundung für den Whistleblower Edward Snowden ab.

Gleichzeitig spricht das deutsche Staatsoberhaupt über das Problem einer geringen Wahlbeteiligung. Wer freiwillig darauf verzichte, die Stimme abzugeben, so Gauck, „entmächtigt sich politisch". Besondere Kritik hat er an einer nicht näher bezeichneten „Gruppe von Intellektuellen", die diese Wahlenthaltung zum politischen Programm erhöben.

Was der Bundespräsident nicht sehen will ist, dass die „Entmächtigung" eventuell schon lange vorher stattgefunden hat - unter anderem durch ihn. Wenn er sagt, „dass es uns Politikern nicht immer gelingt, hochkomplexe Sachverhalte für alle Bürger nachvollziehbar zu vermitteln", hat er die Hierarchie bereits definiert: Auf der einen Seite die Politiker, die Avantgarde, und auf der anderen „der Bürger". Letzterer muss nur gelehrt werden, die klugen Entscheidungen von oben zu verstehen.

Und dann erklärt Joachim Gauck: Die NSA sei nicht mit der Stasi vergleichbar. Der DDR-Geheimdienst habe „Bürger bespitzelt, um die gewonnenen Erkenntnisse gegen sie zu verwenden [...] ihnen Freiheit und Bürgerrechte zu rauben und sie so in dauernder Ohnmacht zu halten". Und fügt an: „Darum geht es in dem aktuellen Fall nicht."

„Hochkomplexer Sachverhalt“

Wie der Präsident angesichts der Flut von Enthüllungen seit Edward Snowdens Gang an die Öffentlichkeit zu diesem Ergebnis kommt, bleibt im Dunkeln. Das ist vielleicht so ein „hochkomplexer Sachverhalt", den unsere politischen Eliten noch nicht „für alle Bürger nachvollziehbar" vermittelt haben.

Dabei wäre ein Erläuterung hochwillkommen. Solange Angela Merkel und ihr Kanzleramtschef sich vornehm zurückhalten wäre Gauck, als überparteilicher und unabhängiger Repräsentant, doch die erste Wahl, um Nachfragen zu stellen und für die Öffentlichkeit Antworten einzufordern.

Statt dessen flüchtet er sich in ein Netz aus beliebigen Phrasen. Das mag zu feierlichen Jubiläen und Ordensverleihungen angemessen sein, angesichts einer Krise des Rechtsstaats und der Demokratie ist das zu wenig.

Dass eine Demokratie, die einen übergesetzlichen Geheimdienstapparat mit unbekannten Befugnissen und unendlichen technischen Möglichkeiten duldet, sich in einer Krise befindet, daran dürfte kaum Zweifel bestehen. Dass keine Partei mit Aussicht auf Regierungsbeteiligung sich ernsthaft daran zu stoßen scheint, könnte Anlass genug sein, nicht wählen zu gehen. Diesen Zusammenhang aber will Joachim Gauck nicht sehen.

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Daniél Kretschmar
Autor
Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Newsletter unter: https://buttondown.email/abgelegt
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15 Kommentare

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  • H
    Hunkpapa

    IM "Larve" kennt sich doch aus, und wenn nicht kann er ja auf kurzem Dienstweg mit IM "Erika" Kartoffelsuppe essen.

  • UF
    Ulrich Frank

    Zutreffender Kommentar. Aber leider wird Nichtwählen die Dinge auch nicht ändern. Die "Volksparteien" werden auch bei nur 10% Wahlbeteiligung noch die mit gescjhwellter Brust volle Herrschafts-Legitimität beanspruchen - "jetzt erst recht", sonst droht ja "Anarchie"... Besser erscheint noch z.B. parteilose Kandidaten aus Bürgerbewegungen aufzustellen wie jetzt z.B. in Stuttgart geschehen.

  • MS
    Mister S

    Säße ich (unschuldig?) im Knast, würde Gauck mir vorschlagen, die Schlusen zu wählen - und Dankbarkeit für die Wahl-"freiheit" erwarten.

     

     

     

    Nene, wählt Euch mal schön selber - meine Legitimation gibts nich so billig.

  • Wenn ich an Gauk denke, so denke ich zuerst an das glückliche Gesicht von Trittin, der vermeinte, den Mann gegen Merkel durchgesetzt zu haben.

     

     

     

    Jetzt sagt mir noch einer, der Trittin wäre immer noch stolz auf seinen "Coup"?

     

     

     

    Auch wenn das jetzt ein Aufschrei provoziert, selbst von Wulff hätte ich mir Zielführenderes erwartet in der Affäre Gauk. Gauk ist ein eitler alter Opportunist. (Mochte ihn vielleicht deshalb Trittin so?)

  • Schon bei seiner Wahl hab ich nichts Gescheites von Herrn Gauck erwartet und meine Erwartungen wurden da noch übertroffen.

     

     

     

    Ich werde wählen gehen, weil es jenseits des Einheitsbrei's auch gute Leute in Berlin gibt, die Unterstützung verdient haben.

     

    Für Nichtwähler hab ich aber vollstes Verständnis, den die meisten Abgeordneten vertreten schlichtweg nicht die Interessen der Bürger.

  • G
    Gast

    Könnte es sein, dass im vorletzten Satz ein "nicht" fehlt?

  • F
    frizzz

    Im Gegenteil sehe ich eine Regierung, die nur von ca. 30% des Volkes gewählt wurde, als illegitim an. Wenn es eine PArtei nicht schafft, mindestens 80% WählerINNEN an die Urnen zu bringen , soll sie eben nicht antreten. ABER das eigentlich ermüdende ist die Koalitionsgefahr- es ist wurst, wen man nICHT wählt- irgendwie kommt diese PArtei dann doch ans ruder- Stichwort Einheitspartei der DDR

  • P
    PLZ

    betrifft PartG §13

     

    Was sagt eigentlich das Verfassungsgericht dazu, dass das Wahlrecht an die Parteienfinanzierung gekoppelt ist?

  • LH
    Lügen habe Politikerbeine

    Das sind alles feige Lügner. Ansonsten hätten die die Amis schon längst aus der EU rausgeschmissen. Die Situation ist doch wirklich lachhaft.

  • DM
    Demokrat mit Gewissen

    Abslout treffender Kommentar!

     

    Ich werde auch erst wieder wählen gehen, wenn das wieder etwas mit Demokratie im Sinne politischer Differenz zu tun hat. Die post-politische Fassade einer dem digital-industriellen Komplex hörigen Technokratenbande zu legitimieren, ist gegenüber einem demokratischen Ideale absolut nicht mehr zu rechtfertigen.

  • M
    Märchenerzähler

    Östliche Geheimdienste bespitzeln um die Freiheit einzugrenzen. Westliche Geheimdienste dageegen bespitzeln um die Freiheit zu schützen. Es ist wieder Märchenstunde und der oberste Märchenerzähler ist Gauck. Nicht das Erzählen und Erklären ist wichtig, sondern Taten.

  • M
    mareike

    BP Gauck, der kein anderes Wort öfter benutzt als Freiheit, hat lange gebraucht, um etwas zur aktuellen Empörung zu sagen.

     

    Er hätte es auch lassen können. 100%ige Sicherheit kann es auch bei 100%iger Überwachung nicht geben. Also erwarte ich die Einhaltung der Gesetze auch durch die USA und fordere entschieden mehr Einsatz von der Regierung.

     

    Lest Eueren Amtseid noch einmal genau nach!

  • I
    ich

    Gelungener Artikel über den obersten deutschen Sonn-, Fest- und Feiertagsredner. -

     

     

     

    Eine Randbemerkung: Der Nichtwähler "entmächtigt" nicht nur sich selber, er entmächtigt gleichzeitig auch die Parteien, denn seine Entscheidung trifft sie dort, wo es ihnen weh tut: am Geldbeutel (siehe PartG § 18 Abs. 3).

  • PB
    peter boese

    >Der DDR-Geheimdienst habe „Bürger bespitzelt, um die gewonnenen Erkenntnisse gegen sie zu verwenden [...] ihnen Freiheit und Bürgerrechte zu rauben und sie so in dauernder Ohnmacht zu halten". Und fügt an: „Darum geht es in dem aktuellen Fall nicht."

     

     

     

    Ja nee, is klar, die heutigen Geheimdienste sammeln unsere Daten um pünktliche Geburtstagsgrüsse übermitteln zu können.

     

     

     

    Btw. war es nicht Gauck der mit Geheimnisverrätern kein Verständnis haben konnte. :-O

  • Auf den Punkt gebracht!

     

    Tut was Gscheites, dann kriegt ihr vll mei Stimme.

     

    Was soll man denn sonst machen, wenn's niemand waehlbaren gibt? und fangt mir bloss net mit der AFD an...Menno, Menno.

     

    Wenn ich in ein Restaurant geh, und ich kann waehlen zwischen Zeug was mir net schmeckt und Zeug wogegen ich allergisch bin, dann muss ich ja wohl die Freiheit haben zu sagen; "Guter Tag der Herr, des taugt nix". Und warum sollte das mit meiner Stimme anders sein?