Buch zur türkischen Zivilgesellschaft: Die Stunde Null ist lange her
Wer glaubt, die türkische Zivilgesellschaft gebe es erst seit den Taksim-Protesten, täuscht sich. Ein Buch der Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz klärt auf.
Die Geburt der türkischen Zivilgesellschaft. So unterschiedlich die Medien im Juni die bürgerkriegsartigen Szenen um den Gezi-Park im Zentrum Istanbuls bewerteten, in einem Punkt waren sie sich alle einig. Der Versuch der Regierung des islamischen Ministerpräsidenten Erdogan, den Widerstand gegen seine Pläne zum Stadtumbau gewaltsam zu ersticken, hat der Türkei etwas beschert, was sie vorher nicht hatte: eine demokratische Opposition.
Wie wenig die journalistische Parole einer zivilgesellschaftlichen „Stunde Null“ am Bosporus mit der Realität übereinstimmt, kann man jetzt in einem Buch nachlesen, das schon im Frühjahr erschien, aber weitgehend unbeachtet blieb. Darin datiert die Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz die „Geburt“ der türkischen Zivilgesellschaft weit vor den jüngsten Ereignissen.
Die Idee, den Militärputsch von 1980 als Ausgangspunkt der neuen Zivilgesellschaft zu sehen, erscheint zunächst paradox. Klingt aber um so logischer, wenn man sich daran erinnert, dass in den Jahren von 1980 bis 1983 alle politischen Organisationen verboten waren. Wer sich irgendwie mit den damaligen Ereignissen auseinandersetzen wollte, musste also in eine nichtpolitische Gruppe gehen.
Pioniere sind Frauen- und Menschenrechtsgruppen
Als sichtbare Zäsur setzt Al-Rebholz spätestens das Jahr 1996 an. Damals erschien in der Tageszeitung Hürriyet erstmals die Schlagzeile „Die Zivilgesellschaft steht bereit“. Doch schon 1995 existierten nach offiziellen türkischen Schätzungen fast 4.000 Organisationen, die sich unter diesem Begriff subsumieren ließen.
Die Pionierrolle bei der Etablierung der jüngeren türkischen Zivilgesellschaft nehmen für Al-Rebholz die neue Frauen- und die Menschenrechts-Bewegung ein. Schon 1975 gründete sich in Istanbul der „Fortschrittliche Frauenverein“ (IKD) der Türkei. 1986 folgte die größte Menschenrechtsorganisation IHD, die auch bei den Gezi-Kämpfen eine wichtige Rolle spielte.
Al-Rebholz‘ Buch ist ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 2009 an der Universität Frankfurt, wo sie heute Gesellschaftswissenschaften lehrt. Die Datenbasis liegt also schon einige Jahre zurück. Wer sich von der sperrigen Sprache und Struktur solcher akademischen Pflichtübungen nicht abschrecken lässt, dem wird sie zu einer wertvollen Erkenntnisquelle über die türkische Gesellschaft – so wie sie Theorie und Empirie kombiniert: Sie lässt die Entwicklung der Intellektuellen vom Osmanischen Reich bis zur türkischen Republik Revue passieren. Oder zeichnet die Versuche nach, den Islam als „kulturellen Zement“ der türkischen Gesellschaft zu instrumentalisieren.
Das Militär ist gar nicht säkular
Eine Strategie, der sich besonders das Militär verschrieb. Die Generäle machten nach dem Militärputsch 1980 den Religionsunterricht an den Schulen obligatorisch, richteten landesweit Korankurse ein und bedachten die religiösen Stiftungen mit Staatsknete. So wie sie da unter dem Motto „Moschee, Kaserne, Familie“ eine ideologisches Bollwerk gegen links zu errichten versuchten, straft das ihr gern proklamiertes Selbstbild von „Atatürks Soldaten“ als den berufenen Hütern des Säkularismus‘ Lügen.
Das Gegenteil ist wahr: Sie legten überhaupt erst die Fundamente für den allmählichen Aufstieg der islamischen Parteien zunächst von Necmettin Erbakan, später dann von dessen erfolgreicherem Ziehsohn, dem gegenwärtigen Premierminister Erdogan.
Al-Rebholz erinnert auch an weniger bekannte Strukturprobleme der türkischen Zivilgesellschaft: das erst Ende der 90-er Jahre wieder abgeschaffte Politik- und Bündnisverbot für ihre Organisationen etwa. Eine Interview-Serie mit Protagonisten der Frauen- und Menschenrechtsbewegung bringt Leben in die viele Theorie, die in diesem verdienstvollen Buch steckt.
Weniger Staat: Das ist auch eine neoliberale Losung
Interesse verdient vor allem Al-Rebholz‘ Beobachtung, dass das Aufkommen des Diskurses über die Zivilgesellschaft in der Türkei parallel zum weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus verläuft. Ausgehend von den Theorien des italienischen Marxisten Antonio Gramsci sieht sie dessen allmähliche Durchsetzung als „Teil von einem Kampf um die Hegemonie“ nach dem Militärputsch von 1980. Damals galt es, die brüchig gewordene Gründungsideologie der Kemalisten zu ersetzen. Und das Verständnis von Staats- und Regierungshandeln neu zu definieren.
Erdogans neoliberale Agenda ist der Beweis für den Erfolg dieses Diskurses. Er markiert ein nicht nur für die Türkei typisches Dilemma. Dem Mehr an Zivilgesellschaft samt dem kritischem Bewusstsein seiner Akteure steht die wachsende Akzeptanz der Aspekte eines Begriffes entgegen, der zum Kern des Neoliberalismus gehört: Abbau des Staates.
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