Mehr direkte Demokratie im Ländle: Die Lehren aus Stuttgart 21
In Baden-Württemberg dürfen die Bürger bei Großprojekten künftig von Beginn an mitreden. Der Haken: Einklagen können sie dieses Recht nicht.
STUTTGART taz | Stuttgart 21 lautet stets das Stichwort, wenn es um mehr Bürgerbeteiligung geht. Der Konflikt um das so teure wie von den Bürgern ungeliebte Bahnprojekt hatte mit dazu beigetragen, dass Baden-Württemberg seit 2011 nicht mehr von einer schwarz-gelben sondern von einer grün-roten Landesregierung regiert wird. Zugleich diente Stuttgart 21 dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als mahnendes Beispiel, Großprojekte nicht mehr ohne die Einbeziehung der Bürger zu planen. Vielmehr trat die Regierung mit dem Anspruch an, eine „Politik des Gehörtwerdens“ zu verfolgen.
Am Dienstag nun hat das Kabinett einen Schritt in diese Richtung getan: Im „Ländle“ sollen Bürger bei Infrastrukturvorhaben künftig von Anfang an mitreden dürfen. Das Kabinett verabschiedete einen entsprechenden Leitfaden für eine neue Planungskultur. Kretschmann bezeichnete die neue Verwaltungsvorschrift als „sehr wichtigen Baustein“ für die Bürgerbeteiligung. „Damit setzen wir neue Maßstäbe“, sagte er.
Den Behörden werden mit dem Leitfaden verbindliche Vorgaben für die Beteiligung gemacht, sofern das Land selbst Vorhabenträger ist. Entscheidend sei vor allem, wie mit den Ergebnissen der Beteiligung umgegangen wird, damit die Vorschläge der Bürger auch wirklich gewürdigt werden. Sie müssen nun immer mindestens so behandelt werden wie Fachgutachten. Werden Vorschläge der Bürger abgelehnt, muss die Verwaltung dies öffentlich und fachlich begründen.
„Es ist bundesweit einmalig, dass solch ein Planungsleitfaden nicht nur empfehlenden Charakter hat, sondern mit der Verwaltungsvorschrift auch richtig ’Biss‘ bekommt“, sagte die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, Gisela Erler.
Behörden sitzen am längeren Hebel
Keine Vorschriften gibt es hingegen für die Frage, wie die Bürger einbezogen werden sollen. Dies könne nicht immer nach dem gleichen Schema ablaufen, erklärte Erler. Halten die Behörden ein Projekt für offenkundig unstrittig, können sie auch auf ein Beteiligungsverfahren ganz verzichten. Auch ist die Beteiligung nicht einklagbar. Im Klartext: Im Zweifel sitzen die Behörden auch in Zukunft am längeren Hebel.
Erler betont hingegen, sie sehe keine Gefahr, dass der Wunsch auf Bürgerbeteiligung bei wichtigen Vorhaben ignoriert werden könnte. Auch könne die Regierung mit der Vorschrift private Projektträger zwar nicht zwingen, die Bürger einzubeziehen. Doch laut Erler kommen aus der Wirtschaft selbst bereits Signale und Initiativen für eine bessere Beteiligung. „Auch den Unternehmen sind die Risiken einer mangelnden Beteiligung inzwischen bekannt.“
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) begrüßt den Vorstoß ausdrücklich. Das Land mache jetzt ernst mit der Beteiligung, sagte BUND-Referent Klaus-Peter Gussfeld. Kritisch sieht er allerdings, dass der Leitfaden nur für Großprojekte gelte, die planfeststellungspflichtig sind oder nach dem Bundesemissionsgesetz einer Öffentlichkeitsbeteiligung unterliegen.
Beim Ausbau der Windkraft sei das aber beispielsweise nur bei großen Windparks der Fall. „Doch schon bei zwei bis drei Anlagen gibt es oft Ärger“, so Gussfeld. Das Land solle sich deshalb nicht nur an derartigen Formalien orientieren, sondern in erster Linie am jeweiligen Konfliktpotential.
Grün-Rot: Quorum für Volksentscheide senken
Neben einer neuen Planungskultur sieht Erler eine zweite Baustelle in dem Ausbau der direkten Demokratie. Eine interfraktionelle Arbeitsgruppe erarbeitet derzeit einen Kompromiss zur Absenkung des sogenannten Zustimmungsquorums bei Volksentscheiden. Dieses liegt in Baden-Württemberg mit 33 Prozent im Ländervergleich mit am höchsten. Grün-Rot möchte das Quorum absenken, braucht dafür jedoch die Stimmen der Opposition.
Der neue Leitfaden, sagt Erler schließlich, verhindere nicht automatisch Konflikte wie um S21. Es gebe aber nun „die Hoffnung, dass es bei vielen Projekten besser läuft“.
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