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Gentrifizierung in Rio de JaneiroErst Drogenbosse, jetzt Spekulanten

Die Befriedung von Rios Favelas zeitigt erste Früchte. Doch nun sind die Armenviertel ins Visier von Immobilienspekulanten geraten.

Von Spekulanten entdeckt: die Favela Morro da Providência in Rio de Janeiro. Bild: dpa

RIO DE JANEIRO taz | Es ist einer dieser Postkartenblicke von Rio de Janeiro: auf der einen Seite die dicht bebaute Stadtlandschaft mit den grünen Hügeln, auf der anderen der blaue Atlantik, dazwischen ein weißer Streifen, der Strand von Ipanema. Für ganze 12 oder 15 Euro kann man sich daran sattsehen. So viel kostet die Nacht im Guesthouse Alto Vidigal.

Noch dazu ist es der ideale Ort zum Wandern, Klettern, Baden und für das Sightseeing in der Millionenmetropole. Die schicken Stadtviertel der Südzone mit ihren Stränden, Restaurants und Geschäften liegen gerade mal fünfzehn Minuten entfernt. Und oberhalb locken die Gipfel der markanten Felsen Dois Irmãos, umgeben von den Ausläufern des tropischen Regenwalds Floresta da Tijuca.

Nur die Anfahrt ist unkonventionell: Am Fuß des Hügels steige ich auf ein Motorrad, ein korpulenter Mann, dessen Gesicht ich unter dem Helm nur vage erkennen kann, fährt mich für umgerechnet einen Euro den Berg hinauf, vorbei an meist unverputzten Behausungen, bescheidenen Läden, Snackbars. Hier und da steht Sperrmüll oder ein ausgeschlachtetes Auto am Straßenrand, in regelmäßigen Abständen tauchen Polizeistationen auf.

Vidigal ist eine von rund 350 Favelas in Rio. Die ersten Hütten entstanden hier in den 1930er Jahren, nach und nach kamen mehr dazu. Auch wenn es immer wieder Versuche gab, die Menschen in der Nähe des eleganten Stadtviertels Leblon und in unmittelbarer Nachbarschaft des Sheraton Hotels umzusiedeln, haben sich die Bewohner standhaft zur Wehr gesetzt.

So drängen sich heute um die 35.000 Menschen auf dem Hügel. Dicht an dicht schmiegen sich die Häuser aneinander, für Straßen und Plätze ist nur wenig Platz. Doch für die mangelnde Lebensqualität entschädigt häufig der Panoramablick.

Reisetipps

Das Hostel: Alto Vidale, Rua Armando de Almeida Lima - Nº 2 - Arvrão - Vidigal, Rio de Janeiro, Tel. (00 55) 21 33 22-30 34. Infos: Brasilianisches Fremdenverkehrsamt c/o MPB Frankfurt, Börsenplatz 4, 60313 Frankfurt am Main, Tel: (0 69) 96 23 87 33

Das Buch: Von unserer Autorin Ulrike Wiebrecht ist bei Merian „Rio de Janeiro – eine Stadt in Biographien“ (16,99 Euro) erschienen. Eine Annäherung an die Stadt über ihre Persönlichkeiten: von Stefan Zweig, der hier politisches Asyl erhielt, als er im Nazi-Deutschland verfolgt wurde. Oder Hans Stern, der Junge aus Essen, der in Rio seinen Schmuckkonzern gründete; der Bestsellerautor Paulo Coelho mit seinen munteren Lebensweisheiten. Und die Fußballlegende Ronaldo lernte im unscheinbaren Mitteklasseviertel Bento Ribeiro göttlich kicken.

Wie im Fall des Guesthouses Alto Vidigal. 2011 hat Andreas Wielend damit begonnen, das Hostel zu betreiben – und damit offensichtlich ins Schwarze getroffen. Nicht allein, dass seine Betten gut ausgelastet sind. Auch die Partys, die hier regelmäßig stattfinden, finden regen Zuspruch. Gleichzeitig sind die Gebäude, aus denen sich die eher bescheidene Unterkunft zusammensetzt, um ein Vielfaches im Wert gestiegen.

Ein Objekt der Begierde

„Von einst 40.000 Reais auf etwa eine Million oder mehr“, schätzt der Österreicher. Demnach wäre sein Hostel heute statt 14.000 um die 350.000 oder sogar 500.000 Euro wert. Jedenfalls steht außer Frage, dass Grundstücke wie das Guesthouse Alto Vidigal, auf das vor zehn Jahren keiner etwas gegeben hätte, zum Objekt der Begierde geworden sind. So sehr, dass es sogar zu einem ernsthaften Zwist zwischen dem Österreicher und einem Berliner gekommen ist, für den die brasilianische Zeitung O Globo sogar den Vergleich mit der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland herangezogen hat.

Alles begann, als Rolf Glaser, Gründer der Berliner Pfandkredit-Anstalt Exchange AG mit siebzehn Leihhäusern in Deutschland, vor einigen Jahren etwa sechzig Gebäude in Vidigal erwarb. Als sich abzeichnete, dass in den Favelas in absehbarer Zeit Frieden einkehren würde, wollte er hier investieren.

In den Sand gesetzt

„Deutscher Millionär Rolf Glaser kauft Armenviertel von Rio“, titelte beispielsweise die Bild-Zeitung am 13. Februar 2009 und berichtete, dass der Pfandhaus-König, der in Rio als „Retter der Armen“ gefeiert würde, aus den Wellblechhütten ein Urlaubszentrum mit Luxushotels machen wolle. Was dann offensichtlich an den Behörden scheiterte. „Rolf Glaser gibt auf – Investition von 1,1 Millionen in Sand gesetzt“, hieß es daraufhin im Forum www.brasil-web.de.

Glaser zog sich von dem Projekt zurück und verkaufte 2010 die Gebäude wieder. Unter anderem an Andreas Wielend, der hier dann sein Hostel eröffnete. Doch als der im September 2012 von einem Urlaub aus Österreich zurückkam, erlebte er eine unangenehme Überraschung: Der deutsche Vorbesitzer hatte versucht, erneut von dem Haus Besitz zu ergreifen. „Er warf mir vor, es gar nicht bezahlt zu haben. Außerdem hat er mich bei der Polizei als Drogendealer angezeigt. Ich fühlte mich auch persönlich von seinen Leuten bedroht“, erinnert sich Wielend an den Beginn eines langen Rechtsstreits, der noch immer nicht abgeschlossen ist.

Die Konkurrenz schläft nicht

Immerhin kann er inzwischen sein Guesthouse wieder betreiben. Und nachdem es geplündert, zum Teil zerstört worden war, hat er es hergerichtet und verschönert. Denn die Konkurrenz schläft nicht: „Wir suchen Kellner, Zimmermädchen, Rezeptionisten und Sicherheitsleute“ steht auf einem Schild an dem Rohbau eines mehrstöckigen Gebäudes in seiner Nachbarschaft.

Dort verwirklicht Antônio Rodrigues, Besitzer der Restaurantkette Belmonte, was Rolf Glaser vorschwebte: Gemeinsam mit dem Architekten Helio Pellegrini baut er ein Fünf-Sterne-Hostel mit Swimmingpool und einer der schönsten Aussichten von Rio.

Der Fall Vidigal ist beispielhaft für das, was zurzeit in vielen Favelas von Rio passiert. Seitdem die UPP, die Befriedungseinheiten der Polizei, die Viertel besetzt und die ausschließliche Machtstellung der Drogenbosse gebrochen haben, sind in den Armensiedlungen friedlichere Verhältnisse eingekehrt. So frei, wie ich mich in Vidigal zu Fuß oder mithilfe von Mototaxis bewegen kann, kann ich auch im Complexo do Alemão in der Nordzone von Rio mit der Gondelbahn von einem Hügel zum anderen schweben, mich in dem großen Gebiet von vierzehn Favelas umsehen, hier einen Saft trinken, dort ein Misto quente, einen gemischt belegten Toast, essen und mit den Anwohnern reden.

Auch die Touristen kommen: Bunte Häuser in der Favela Dona Marta. Bild: dpa

Satellitenschüsseln und Klimaanlagen

„Seit der Pacificação, der Befriedung der Favelas durch die Polizeieinheiten, ist hier überall neues Leben mit kleinen Läden, Friseuren oder Nagelstudios entstanden“, meint Arnaldo Bichucher, der in Rio als Guide arbeitet und die Entwicklung in den Favelas genau beobachtet. Er zeigt auf die vielen Satellitenschüsseln und Klimaanlagen, die aus dem Häusermeer ragen – Zeichen für neue Kaufkraft und eine aufkeimende Mittelschicht. Neben den Polizeistationen fällt ein 3-D-Kino ins Auge, außerdem die Praça do Conhecimento, eine Art Bildungszentrum.

Wer sich bei Betreten des vorbildlich sauberen Gebäudes ausweist, kann hier mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unter der Aufsicht ausgebildeter Sozialarbeiter kostenlos an Computern der neuesten Apple-Generation arbeiten, mit ihrer Hilfe Tanzschritte einstudieren oder Filme zu produzieren lernen.

„Viele behaupten, die Befriedung der Favelas sei nur Kosmetik, mit der die Stadt ihr Image für die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Spiele aufpolieren will“, weiß Arnaldo. „Mag sein, dass die Großereignisse tatsächlich der Anlass waren, um nach Jahren der Untätigkeit etwas zu unternehmen. Aber ich glaube nicht, dass danach wieder alles wie vorher wird. Es gibt keinen Weg zurück.“

Nicht allein, dass die Polizei weitgehend die Kontrolle über die befriedeten Favelas hat – mit mehr oder weniger Akzeptanz der Bevölkerung, die mit den Ordnungshütern oft genug schlechte Erfahrungen gemacht hat. Gemeinsam mit den Touristen, die immer häufiger in Favela-Hostels unterkommen, haben auch die Cariocas, die Bewohner von Rio, die Viertel für sich entdeckt.

Traumhafte Panoramen

Bei Ausflügen überzeugen sie sich von der neuen Entwicklung auf den Hügeln, lassen sich von den traumhaften Panoramen und der Küche mancher Lokale begeistern; inzwischen listet ein Restaurant-Guide die besten Adressen in den Armensiedlungen auf.

Während sich beispielsweise die Besitzer der kleinen Lokale über neue Kundschaft freuen, fördern die wiederum das friedliche Zusammenleben. „Wo Besucher hinkommen, lassen sich die Banditen nicht blicken“, erklärt Arnaldo. Zwar würde es hier weiterhin Kleinkriminalität, Taschendiebe und dergleichen geben wie anderswo auch. Doch die Schwerverbrecher würden nur da ihr Unwesen treiben, wo keiner hinschaue. Freilich würden die friedlichen Verhältnisse auch dazu beitragen, dass nun Investoren und Spekulanten ihre Hände nach den gut gelegenen Immobilien ausstrecken.

Auch angrenzende Viertel seien davon betroffen. Der Guide erwähnt den Fall einer Wohnung in der Umgebung der Favela Rocinha, die aufgrund der Befriedung und durch die Ankündigung einer neuen U-Bahn-Station in der Nachbarschaft bis 2015 in kürzester Zeit von etwa 90.000 auf rund 380.000 Euro hochgeschnellt ist. Aber das sei eben der Preis für die Befriedung.

Eine angenehme Atmosphäre

„Muito legal – ganz toll“ findet auch Brenan die Entwicklung, die den Favelas neue Lebensqualität beschere. Der Brasilianer, der in einem Hotel in Leblon arbeitet, ist bewusst nach Vidigal gezogen, weil es sich seiner Meinung nach jetzt gut dort leben lässt. „Mittlerweile gibt es überall Internet und sogar eine geregelte Wasserversorgung“, meint er. Und die Atmosphäre sei total angenehm.

Ganz anders sieht es die Argentinierin Julia, die als Bibliothekarin in der Nichtregierungsorganisation Nós do Morro arbeitet. „Abgesehen davon, dass ich mich hier nicht unbedingt sicherer fühle, weil ich der Polizei misstraue, schnellen die Preise derart nach oben, dass viele langfristig aus ihren Wohnungen verdrängt werden“, kritisiert sie. Vorher habe das Gewaltszenario Immobilienspekulanten abgeschreckt. „Meiner Meinung nach hat die Befriedung der Favelas vorrangig das Ziel, Investoren den Weg zu den Toplagen zu ebnen“, sagt Julia.

„Jetzt geht es hier richtig ab“, räumt auch Andreas Wielend ein. „Nach dem Drogenkrieg kommt der Immobilienkrieg. Zurzeit wird in den Favelas ein Hostel nach dem anderen eröffnet, die Luxusobjekte werden folgen“, sagt Wielend. Zwar könne er sich darüber freuen, dass sein Guesthouse inzwischen viel mehr wert sei. „Aber das war schließlich auch ein harter Kampf.“

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4 Kommentare

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  • H
    Hauke

    wir sind zur zeit in rio unterwegs und haben mit verschiedenen linken und kritischen journalist_innen gesprochen. der artikel ist unglaublich, wie er nicht nur den favela-tourismus beschoenigt, sondern auch noch der armenbekaempfungspolitik durch upp und der ausweitung der polizeieinsaetze glorifiziert. von einer linken tageszeitung wuerde ich ein anderes, kritischeres niveau erwarten. enttaeuschend!

  • H
    HEROS

    Mit der Gier einiger westlicher Nimmersatten zerstört Ihr die einheimischen Strukturen, Einzigartigkeiten, Gebilde- und Verpflechtungen!!! Die kürzeren ziehen immer die Inländer und die Armen. Westliche Heuchler...

  • G
    Gast

    Der Text wirkt auf mich sehr oberflächlich, beinahe wie ein Propagandaartikel der "Pacificação". Ich wohne in Brasilien und die Stimmung bezüglich der WM ist denkbar schlecht. Derartige "Befriedungsprojekte" sind beinahe zynisch, haben nichts mit sozialer Politik zu tun, sondern ausschließlich das Ziel die Gegend um die Stadien für das (ausländische) Kapital zugänglich zu machen. Es ist insgesamt zu einem Wechsel der Macht in Rios Favelas gekommen, da Milizen der Polizei die Favelas als Markt entdeckt haben. Dieser Prozess weitet sich jetzt auch auf ausländische Investoren aus. Die Vorgehensweise von Rolf Glaser gegen Andreas Wielend zeigt den wahren Geist der Befriedigung. Ich stimme absolut mit Julia, von "Nos do Morro" überein. Für die Bewohner der Favelas ist die Entwicklung besorgniserregend und wahrscheinlich müssen sie bald in die Favelas der Favelas umziehen, weil der Grundstückpreis in Rio ihre Anwesenheit nicht mehr zulässt. Schade finde ich als Taz-Leser, dass der Artikel fast gänzlich aus Sicht einer Touristin/eines Touristen geschrieben ist, schön im Reiseführerstil. Man hätte auch ausführlicher mit dem Projekt "Nos do Morro" sprechen können, welches als kulturelle Städte in Rio unter anderem an den Filmen "City of God" etc mitgearbeitet hat. Stattdessen wird mit einem "Guide" gesprochen, dessen Job es ist Touristen zu locken. Aber naja, hauptsache man kann sich für 12 Euro an der Aussicht sattsehen.

  • Sagenhafte Neuigkeit. Neben den Haeusern der Herrschaft war ja wohl immer mindestens die zweitbeste Lage.