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Kolumne WirtschaftsweisenSchon Engels litt unter Gentrifizierung

Kolumne
von Helmut Höge

Die Gentrifizierung hat das Wohnen zum Problem gemacht. Was sagen die Philosophen dazu?

Was wusste Friedrich Engels? Bild: dpa

D ie Berliner rücken zusammen“, titelte die BZ, soll heißen: Die Gentrifizierung hat das Wohnen zum Problem gemacht. Was sagen die Philosophen dazu? Georg F. W. Hegel wurde 1806 von den Franzosen aus seiner Wohnung vertrieben, er fand Unterschlupf im Haus des Verlegers Frommann – mit lediglich dem Manuskript seiner „Phänomenologie des Geistes“ im Gepäck, in dem das „Wohnen“ an keiner Stelle erwähnt wird.

Anders Friedrich Engels, der sich 1872 ausführlich „Zur Wohnungsfrage“ äußerte: „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen.“

Noch wesentlicher argumentierte der Schwarzwälder Philosoph Martin Heidegger: Für ihn war das Wohnen keine „Tätigkeit unter anderen, sondern die schlechthinnige Seinsweise des Menschen auf der Erde“. Er unterstrich „dies mit Hilfe etymologischen Erörterungen (bauen => ich bin). Sein Begriff des Wohnens erschöpft sich also nicht im bloßen ’Innehaben einer Unterkunft', schreibt Julian Eidenberger. In seinem Heidegger-Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ heißt es: „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d. h. als die Wohnenden sind.“

Ihm antwortete der exilierte Philosoph Theodor W. Adorno: „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen (…) haben etwas Unerträgliches angenommen: Jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.“ Das gilt für Europa. Anders in Amerika: Dort wohnen die Menschen, „wenn nicht in Slums, in Bungalows, die morgen schon Laubhütten, Trailer, Autos oder Camps sein mögen.“ Daher gilt: „Das Haus ist vergangen … es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“ Damit daraus aber keine lieblose Achtung für die Dinge wird, „die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt,“ brauche es eine „Antithese“, die jedoch ebenfalls zur „Ideologie“ wird – jedenfalls „für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Punkt.

Der zwei Mal exilierte jüdische Philosoph Vilem Flusser meinte dagegen 1990: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum.“ Über die „Mode“, in „Mobile Homes“ zu leben, schrieb Flusser, gegen Heidegger und Adorno: „Das Wort ’Wohnwagen' scheint sagen zu wollen, dass die Dialektik des unglücklichen Bewusstseins dabei ist, überholt zu werden, und dass wir dabei sind, glücklich zu werden.

Nach Jurij Gagarins Weltraumflug hatte der jüdische Philosoph Emmanuel Levins bereits gejubelt: Damit werde endgültig das Privileg „der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Das wurde jedoch spätestens 1989/90 wiederlegt. Woraufhin der globale schwedische Wohneinrichter IKEA uns mit dem verwirrenden Werbespruch „Lebst du schon, oder wohnst du noch?“ kam. Auf einer Mieterprotestversammlung gegen die Gentrifizierung im Neuköllner Schillerkiez, wo in einem Jahr 500 Mieter ihre Wohnung verloren, entschieden die Aktivisten sich kurzerhand für einen undialektischen Adorno – was hieß: Gute Aufklärungsarbeit bei den Altmietern leisten und gleichzeitig zugeben, „dass die neu zugezogenen jungen Mieter, aus Frankreich und Spanien zum Beispiel, dem Kiez auch gut tun“. Die „Stimmung“ habe sich dadurch verbessert. Außerdem „können die das ja alles gar nicht wissen“ – d. h. „über welche Leichen sie da steigen, wenn sie ihre Wohnungen beziehen, für die nun 10 Euro pro Quadratmeter kalt verlangt werden“.

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Autor
geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.
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