: „Dann bin ich weg vom Fenster“
GRÜNER Winfried Kretschmann ist genervt, weil er den neuen Papst bewerten soll, obwohl er den gar nicht kennt. Aber schweigen geht dann auch nicht. Ein Gespräch über Ruhe in der Politik und die Lust an der Erregung
■ Die Person: Winfried Kretschmann, 64, ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der erste Grüne an der Spitze einer Landesregierung. Er stammt aus einem liberal-katholischen Elternhaus und war Gymnasiallehrer. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
■ Der Politiker: Kretschmann gründete die Grünen in Baden-Württemberg mit und gehörte ab 1980 dort deren erster Landtagsfraktion an. Später war er Grünen-Fraktionsvorsitzender in Baden-Württemberg und folgte 2011 auf den CDU-Politiker Stefan Mappus ins Amt des Ministerpräsidenten.
GESPRÄCH STEFAN REINECKE UND ULRICH SCHULTE
sonntaz: Herr Kretschmann, mögen Sie Journalisten?
Winfried Kretschmann: Ja.
Warum?
In der Politik gilt das Prinzip „Tu Gutes und rede darüber“. Deshalb sind wir auf Sie angewiesen. Und auch das Negative sollte ja nicht geheim bleiben.
Gehen Ihnen Journalisten nicht auf die Nerven?
Manche schon. Aber das würde ich nie pauschalisieren.
Was geht Ihnen am meisten auf die Nerven?
Dass Medien die Tendenz haben, eine gigantische Klischeemaschine zu sein. Wenn man diese Klischees nicht erfüllt, können Journalisten damit schwer umgehen. Ein Beispiel: Aus einem Katholiken wie mir wird sofort ein „tiefgläubiger Katholik“.
Der Sie aber in Wahrheit gar nicht sind?
Mich hat noch nie jemand nach meinem Glauben oder Zweifel gefragt – es wird einfach behauptet. Oder dass ich in den 70er Jahren mal beim maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands war und jetzt ein Konservativer bin. Oder dass die Grünen früher Rebellen waren und nun Spießer sind. Die gleichen Klischees werden wieder und wieder durchgenudelt. Das nervt.
Sie bezeichnen sich selbst als Provinzpolitiker und gelten als jemand, der Distanz zum hektischen Politbetrieb hält. Damit stellen Sie doch selbst ein Klischee über sich her.
Ich bin ein Provinzpolitiker. Das ist einfach die Wahrheit. Mich hat es nie nach Berlin gezogen. Ich war mal zwei Jahre im Parteirat der Grünen und wirklich froh, als ich davon wieder erlöst war.
Was war so schlimm?
Der Horizont war nach rückwärts eine Woche, nach vorwärts 14 Tage.
Also das Aktuelle?
Das Taktische. Das potenziert sich, wenn man in Berlin aus dem Flugzeug steigt. Es gibt eine schöne Stelle in der „Ilias“, dem Epos des Trojanischen Krieges: Achill nennt Agamemnon einen Feldherrn, „der weder vorwärts noch rückwärts denken kann“. Diese Formulierung kennzeichnet die Taktierer, die keinen Bogen in die Zukunft schlagen können. Man sieht: Die Debatte ist nicht neu. Dieses Kurzatmige ist sehr, sehr präsent in Berlin. Und es wird immer schlimmer durch Smartphones und all diese wunderbaren Geräte. Es wird erwartet, dass man in Echtzeit reagiert.
Zum Beispiel?
Ich musste kürzlich den neuen Papst kommentieren. Obwohl ich den früheren Erzbischof von Buenos Aires gar nicht kannte. Ich wusste überhaupt nicht, wer das ist.
Dann schweigen Sie doch besser.
Wenn ich, der politische Oberkatholik der Nation, nichts zum neuen Papst sage, denken viele: Der hat was gegen den. Auch zu schweigen wird ja sofort wieder interpretiert. Deshalb muss ich die Deutung des Schweigens mitdenken.
Der TV-Sender Phoenix verbreitete nach der Papstwahl als eines der ersten Zitate eines von Ihnen – mit der nicht klischeefreien Einschätzung, ein Papst aus Lateinamerika sei ein gutes Signal. Warum beugen Sie sich einem Mechanismus, den Sie ablehnen?
Die Alternative für Politiker ist oft: Entweder ich sage etwas, auch wenn ich wenig weiß. Oder ich recherchiere, denke nach und komme in Medien nicht vor. Wenn ich das zum Prinzip mache, bin ich bald weg vom Fenster. Denn am nächsten Tag ist ja schon uninteressant, was ich über den Papst denke.
Ein neuer Papst, den niemand auf dem Zettel hatte, wird nicht jeden Tag gewählt.
Aber vor dieser Alternative stehe ich dauernd. Über die meisten Dinge müsste man nachdenken oder jemanden fragen. Das wird immer schwerer möglich. Diese Kurzatmigkeit des politisch-medialen Betriebs ist nicht nur eine ästhetische Kritik von mir. Es ist ein wirkliches Problem. Für uns als Grüne, die an Nachhaltigkeit und in langen Linien denken, ganz besonders.
Twittern Sie?
Nein. Ich warte auf den Frühling und freue mich aufs Zwitschern. Von den Vögeln.
Peter Altmaier, Volker Beck und viele andere Politiker haben Twitter für sich entdeckt. Sie brauchen das, sagen sie, um Leute zu erreichen, die der Politik fernstehen. Leuchtet Ihnen das ein?
Ich twittere nicht persönlich. Wir twittern als Landesregierung. Das ist ja die schöne Seite an dem Amt, man hat Mitarbeiter, die Dinge für einen erledigen. Es wäre unglaubwürdig, wenn ich das selbst tun würde. Ich bin ein Altgrieche und Anhänger langer Sätze. Ich kann noch Thomas Mann lesen.
Aber Sie halten es für förderlich für die Demokratie, wenn Politiker via Twitter direkt mit Menschen kommunizieren – an klassischen Medien vorbei?
Ja, durchaus. Aber mir würden sich die Haare sträuben, müsste ich meine Politik in 140 Zeichen erklären.
Der SPD-Politiker Peter Struck schrieb einmal, er habe in Fraktionssitzungen gesessen und noch währenddessen Meldungen von Nachrichtenagenturen auf den Tisch gelegt bekommen, die beschrieben, wie die Stimmung in der Fraktion gerade ist. Kennen Sie das?
Nein, nicht aus eigener Erfahrung.
Benutzen Sie in Sitzungen Ihr Handy?
Nein.
Schreiben Sie SMS? Nein, und ich empfinde das auch nicht als Nachteil.
Angela Merkel regiert zum Teil mit SMS.
Das passt zu ihr.
Warum? Sie ist eine Politikerin der Krisen, eine Krisenmanagerin. Wer weiß, was unsere Bundeskanzlerin will? Wohin will sie? Niemand weiß es. Dazu passt das Medium: in der Krise schnell handeln, reagieren, moderieren. SMS passt zu diesem Regierungsstil und zu Merkels Politikertypus.
Welches Medium passt zu Ihnen?
Das ist ein Problem. Ich falle ein bisschen durch den Rost.
Das klingt eitel. Sie haben als Ministerpräsident doch unzählige Möglichkeiten, sich zu verständigen.
Ja, das ist ein Vorteil des Amtes. Als Ministerpräsident kann ich mit jedem reden. Niemand sagt nein. Das Problem ist der Mangel an Zeit. Was fehlt, sind die Gespräche ohne Tagesordnung, die Muße, mal wieder zu lesen und den Gedanken nachzuhängen. Ich lebe intellektuell von der Substanz.
Und was können Sie dagegen tun?
Ich bin gerade dabei, mir mühsam wieder solche Fenster zu öffnen. Ich habe einen Beraterkreis aus Wirtschaft und Wissenschaft, wir treffen uns alle vier bis sechs Wochen, allerdings mit einem Thema. Das bringt viel. Ich verbringe einfach einen Abend mit Leuten, die etwas zu sagen haben. Und ich muss danach keine Presseerklärung machen und, wie sonst immer, Ergebnisse vorweisen.
Also gehen Ihnen Journalisten doch auf den Wecker.
Nein, aber eine bestimmte Art von Journalismus. Wir machen in Stuttgart jeden Dienstag eine Regierungspressekonferenz zu einem bestimmten Thema. Vorher kann jeder Journalist fragen, was er will. Diese offene Fragerunde ist Tradition in unserem Land. Es ist ja auch okay, denn es gibt immer viele Themen, die interessieren. Nur fragen manche Journalisten so lange nach, bis sie endlich einen Aufreger, irgendeinen für die Nachrichtenagenturen verwendbarer Satz haben.
Muss sich die Politik gegen die mediale Kurzatmigkeit und Skandalisierung mehr wappnen, anstatt sich deren Rhythmen anzupassen?
Das versuche ich. Aber als Politiker kann man sich nur bedingt wehren. Manche sagen: Schalt doch dein Handy ab! Das kann ich tun. Aber dann stellt sich die Frage: Ab wann werde ich nicht mehr ernst genommen? Bevor es das Fax gab, war es wunderbar. Es dauerte, bevor ein Schriftsatz zurückkam. Ein herrlicher Zeitpuffer, in dem man nachdenken, sich besprechen, recherchieren konnte.
Ach ja – früher war alles besser.
Nein, aber fragen wir doch mal umgekehrt: Was macht Politik eigentlich besser, seitdem es Smartphones, E-Mails, SMS und all diese schöne Technik gibt? Ich kann nichts erkennen. Es gibt dazu eine Anekdote von Mark Twain. Als das Telefon erfunden wurde, sagte jemand zu ihm: Ist doch schön, jetzt können die Leute von Des Plaines mit denen in Maine reden. Twain antwortete: Aber was, wenn sie sich nichts zu sagen haben? Das trifft es ein bisschen. Diese Medien promovieren das allgemeine Geschwätz. Unsere großen Aufklärer dachten, wenn wir nur die Möglichkeit haben, ohne Zensur das Publikum zu informieren, dann ist der Fortschritt unaufhaltbar. Jetzt merkt man: Das war ein Trugschluss.
Reden wir über ein Beispiel. Finden Sie, dass der Fall Steinbrück ein Beispiel für überflüssige Skandalisierungen ist?
Ja, das ist ein sehr gutes Beispiel. Nehmen wir Steinbrücks Bemerkung über das Kanzlergehalt, das seiner Ansicht nach höher sein sollte. Das war ein beiläufiger Satz in einem langen Interview, der für Aufregung sorgte. Ich stelle das auch fest: Seit etwa fünf, sechs Jahren führen Journalisten Interviews, um daraus Agenturmeldungen zu produzieren.
Hm.
Gott sei Dank denke ich daran nie.
Inwiefern?
Dieses zusammenhanglose Zitieren aus Interviews erzieht uns Politiker zu etwas Falschem. Wenn wir dreimal erlebt haben, dass uns aus dem Zusammenhang gerissene Sätze um die Ohren gehauen wurden, biegt man die Spur gestanzter Phrasen ein.
Die Gefahr ist bei Steinbrück nicht so groß.
Aber er wird dabei verprügelt und hat ein Problem. Die Welt wird komplexer, aber die Verständigung über die Welt schrumpft auf Halbsätze. Das ist ein sich aufschaukelnder, gefährlicher Prozess, der Vertrauen in Politik zerstört.
Das ist oberflächlich. Aber gefährlich?
Das produziert Missverständnisse. Wir können uns aber in einer Welt der Missverständnisse auf Dauer genauso wenig bewegen wie in einer Welt, in der jeder lügt. Kant hat gesagt: Selbst in einer Welt von Teufeln könnte man die Lüge nicht zum Prinzip machen. Die Demokratie ist darauf angewiesen, das wir einander verstehen, dass es Versprechen gibt, die man auch einhalten kann.
Aber hatte Steinbrücks Satz nicht doch einen Erkenntniswert? Dass Kanzler mehr Geld bekommen sollen, hatte er vorher schon oft gesagt. Aber nun, als Kanzlerkandidat, redete er pro domo. Und auf der Folie, dass er als Abgeordneter enorme Nebeneinkünfte kassiert hatte. Offenbar verstand Steinbrück nicht, dass er als Kandidat anders reden muss als vorher.
Nehmen wir mal an, es wäre so, dass es Steinbrück ein bisschen mit dem Geld hat. Disqualifiziert ihn das als Bundeskanzler? Nein. Ich halte nichts von dem Herummoralisieren in der Politik. Politiker werden an ihrem Erfolg gemessen, sie unterliegen einer Folgenethik. Diese Ethik ist nicht gesinnungslos, dafür sorgen die Verfassungsordnung und deren hohe moralische Standards. Deshalb brauchen wir keine Angst zu haben, dass wir den Erfolg von Bösewichtern honorieren, indem wir den Macchiavellismus verabsolutieren.
Es geht nicht darum, ob Steinbrück ein Bösewicht ist, sondern ob er mit seiner Äußerung über Geld ein glaubwürdiger Kandidat der SPD ist, die soziale Gerechtigkeit als Thema für sich reklamiert.
Ob jemand gute Politik macht, hat mit seiner persönlichen Lebensführung nichts zu tun. George W. Bush war ein wiedererweckter Christ, der sich seine Laster abgewöhnt hat. Bill Clinton hat’s mit seiner Praktikantin getrieben. Über die Qualität ihrer Außenpolitik sagt beides nichts aus. In den USA spielt der Charakter eine viel größere Rolle. Also schauen die Medien bei US-Präsidentschaftskandidaten auf vier Dinge: Sex, Psyche, Drogen, Steuererklärungen. Wenn Journalisten dort etwas finden, hat der Kandidat richtig Pech gehabt. Diese politische Kultur schwappt nun zu uns herüber. Das ist problematisch.
Banalisieren Sie damit nicht das Fehlverhalten von Politikern?
Nein. Es ist doch eine gute kontinentaleuropäische Tradition, Argumente zur Sache auszutauschen. Hannah Arendt hat gesagt, Argumente ad hominem zerstören jede politische Debatte. Ein Beispiel: Der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch ist mal mit 180 Sachen in eine Radarfalle gefahren. Das ist skandalisiert worden, weil ja gerade die Grünen für Tempolimits eintreten. Aber ob Tempo 100 richtig ist, entscheidet sich an Argumenten – Klimaschutz, Sicherheit, Verflüssigung des Verkehrs. Ob ein führender Grüner zu schnell fährt, sagt über die Richtigkeit von Tempo 100 nichts aus. Die Tradition von Sachdebatten in Kontinentaleuropa bröckelt.
Ist es für Wähler keine interessante Information, dass Steinbrück als früherer Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen für einen Vortrag 25.000 Euro von den Bochumer Stadtwerken bekommen hat?
Das hat Steinbrück ja selbstkritisch eingeräumt. Mir geht es um eine Entwicklung, die ich gefährlich finde. Steinbrücks Satz zum Kanzlergehalt beschäftigt die Medien wochenlang, ebenso Rainer Brüderles sexistischer Altherrenwitz, den er nachts um eins am Tresen verzapft hat. Annette Schavan musste wegen ihrer 30 Jahre alten Doktorarbeit zurücktreten. Ich will all das nicht rechtfertigen. Aber führt der Trend, persönliche Verfehlungen zu skandalisieren, zu einer besseren Politik? Das bezweifele ich sehr.
Ist diese Kritik nicht realitätsfern? Menschen wollen doch wissen, ob sie dem politischen Führungspersonal vertrauen können.
Das verstehe ich. Natürlich ist die Person wichtig. Ich frage mich aber: Wer kann solche Ansprüche erfüllen? Jedem rutschen mal Sätze aus, und die Political Correctness nimmt zu und nicht ab. Mein Eindruck ist: Die Menschen wollen Heilige, deshalb werden sie enttäuscht. In der Demokratie können die Gewählten aber nicht besser sein als die, die sie wählen.
Müssen Politiker keine Vorbilder sein?
Nein, dagegen wehre ich mich entschieden. Ich sage den Bürgern: Seid euch selbst und anderen ein Vorbild. Man kann in jedem Einzelfall – bei Steinbrück, Schavan und Brüderle – Gründe für Pro und Contra finden. Aber es ist fürchterlich, jeden Politiker einem Moraltest zu unterziehen. Dann haben wir am Ende Jutta Ditfurth als Bundeskanzlerin, also den Fanatismus.
■ Ulrich Schulte, 38, ist Leiter des Parlamentsbüros der taz und zuständig für CDU und Grüne
■ Stefan Reinecke, 54, kümmert sich im Parlamentsbüro der taz vor allem um die Linkspartei
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