piwik no script img

Kolumne NüchternBevor die Leber aufmuckt

Wer bei Alkoholismus nur an Filmrisse und Abstürze denkt, irrt. Die meisten Menschen mit Alkoholproblem führen ein völlig normales Leben.

Eine Flasche Wein am Abend ist irgendwann zu viel. Bild: Patrick Seeger/ dpa

Nach fast zwei Jahren geht diese Kolumne langsam ihrem Ende entgegen. Dies ist die vorletzte Ausgabe. Beim Schreiben hat es mich immer wieder überrascht, wie schwierig es für die meisten Menschen ist, den eigenen Trinkgewohnheiten ehrlich ins Auge zu blicken. Egal wie bedenklich oder unbedenklich diese sind. Und das ist weit mehr als ein rein individuelles Problem.

Um das zu beobachten, muss man noch nicht einmal auf die Wiesn gehen. Obwohl statistisch eindeutig widerlegt (27 Prozent aller Deutschen stehen laut Bundesgesundheitszentrale an der Schwelle zum Alkoholismus), glauben die meisten von uns immer noch, dass es sich bei Abhängigkeit um eine Randerscheinung handelt – und nicht um ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft.

Neulich war ich in einer Morgenshow im MDR-Fernsehen zu Gast, um über Abhängigkeit zu sprechen und mein neues Buch vorzustellen, das wie diese Kolumne den Titel „Nüchtern“ trägt. Darin erzähle ich zum einen, wie ich getrunken und schließlich damit aufgehört habe, und zum anderen, wie wir als Kultur mit diesem Thema umgehen. Es war ein wohlwollendes und sympathisches Gespräch. Aber es führte – wie immer, wenn ich über dieses Buch spreche – nichts an dem in deutschen Talkshows und Magazinen seit Jahrzehnten eingeübten Suchtmythos vorbei.

Seit Jahren wird uns auf allen Kanälen erzählt, dass nur Menschen alkoholkrank sind, die morgens zitternd zum Supermarkt laufen oder mittags im Büro den Flachmann rausholen. Menschen, die wie die Schauspielerin Jenny Elvers ihre Proseccoflaschen überall im Haus verstecken oder wie der Fußballer Uli Borowka „einen Kasten Bier, eine Flasche Wodka, eine Flasche Whiskey und zum Abschluss noch Magenbitter“ trinken, wie er einmal der Zeit verriet.

Medial ausgeschlachtete Zirkusnummern

Ich persönlich finde Elvers und Borowka toll. Die Wahrheit aber ist, dass Abhängigkeit in der Regel sehr viel gewöhnlicher aussieht. Bei solchen Alkoholmengen handelt es sich um Extremfälle, um desolate, medial ausgeschlachtete Zirkusnummern.

Man weiß heute, dass Abhängigkeit schon lange existiert, bevor sie sich in den Leberwerten niederschlägt. Man weiß, dass es bei allen Menschen, die viel trinken, zu psychischen Veränderungen kommt und zu einem strukturellen Wandel im Gehirn. Man weiß, dass schon vergleichsweise wenig Alkohol, regelmäßig getrunken, zu einem deutlich erhöhten Krebs- und Krankheitsrisiko führt. Man weiß, dass gewohnheitsmäßiger Alkoholkonsums hochtraurige Auswirkungen auf Familie und Partner hat.

All das wissen wir und wollen es nicht wissen. Immer wenn ich, wie beim MDR, davon erzähle, wirken Leute erstaunt. Jeder Trinker trinkt asymptomatisch. Man hat gute Phasen, in denen man wenig trinkt und Pausen macht, und schlechte, in denen sich Abstürze häufen. Ich habe peinliche Sachen erlebt, ich hatte auch einige Filmrisse, aber für gewöhnlich ist es abends bei einer Flasche Wein geblieben. Eine Fasche, die irgendwann zu viel war. Die meisten Menschen, die ein Alkoholproblem haben, trinken so. Sie führen völlig normale, unauffällige Leben.

Magisches Denken

Wenn wir uns kollektiv nur die Extrembeispiele einer weit verbreiteten Krankheit vor Augen führen, dann heißt das letztlich, dass wir einer Form des magischen Denkens anhängen. Wir wollen alle glauben, dass wir von dieser Krankheit nicht betroffen sein können. Neben einem so surrealen Konsum wirkt unser Trinken immer völlig vernünftig.

Je mehr wir an dem Irrglauben festhalten, dass die Alkoholkranken nur die im Endstadium der Krankheit sind, desto mehr können wir selbst trinken. Diese Art des magischen Denkens ist ein Denken, dass unzählige Menschen, die Hilfe brauchen, dazu bringt, sich keine Hilfe suchen. Es ist ein Denken, das tötet.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Die widerwärtige Bigotterie, mit der in Deutschland Werbung für Alkoholkonsum und gleichzeitig Verdammung von Marihuana geschieht.

     

    Saufen,saufen,saufen, mit 16,mit 15,egal,hauptsache Oktoberfest,das ist KULTURGUT.

     

    Aber wehe,wenn dann einer mal ein Pflänzchen auf dem Balkon hat.Dann kommt die Rennleitung und hebt die "Haschplantage" aus.

     

    Als Nichttrinkerin habe ich schon oft genug erlebt, wie mir mein Nicht-Alkoholkonsum zum Verhängnis wurde: Trinker werden regelrecht aggressiv(woher das wohl kommt) ,wenn eine® nicht mittrinken will und trotzdem Spass am Leben hat.

  • Wer, wie Daniel Schreiber hier, gesellschaftliche Zustände nüchtern schildert, muss damit leben, trotzdem als "Moralist" verunglimpft zu werden.

     

    Als Wenig- und Selten-Alkoholtrinker (meine Leber verträgt das Zeug nicht) unterlasse ich es, auf Parties oder Gesellschaften, Süchtige und/oder latent Süchtige zu kommentieren oder zu kritisieren. Da kommt dann eher umgekehrt, beledigt und auch mal eindringlich das "Dring doch eene mit..."

     

    (Ich habe einige Freunde und Kollegen am Alkohol zu Grunde sehen und ich kenne etliche, die abhängig sind, das aber vehement leugnen würden)

     

    „Wenige Dinge auf Erden sind lästiger als die stumme Mahnung, die von einem guten Beispiel ausgeht.“ (Mark Twain)

  • in D ist man relativ schnell zum Trinker abgestempelt, eine Untersuchung zu einer ur, auf dei Frage wieviel trinken Sie am Tga ? naja, 2 Bier ! als ich dann in Kur war, ab zum Leberunttericht, auf meinem Befund stand chronischer Alkoholgenuss-man wird egen 2 Bier zum Alki angestempelt und kann garnix dagegen tun, meist erfährt mans garnicht!

    • @Georg Schmidt:

      Wenn sie jeden Tag 2 Bier trinken, sind sie sogar ganz sicher ein Alkoholiker.

  • Guter Artikel, hat mich doch nachdenklich gemacht. Ich habe mich eigentlich für einen Genusstrinker gehalten, aber die Regelmäßigkeit ist bei halt auch da. Ich habe zwar keine Ausfälle, aber auf Alkohol will/kann ich nicht verzichten.

  • So siehts mal aus. Und durch Plakataktionen, wie "Kenn dein Limit", wird der Jugend suggeriert, dass Alkoholkonsum nun mal das normalste der Welt sei, vorausgesetzt, keiner fällt aus der Rolle. Oder so: "Is schon schädlich, aber: Hey, da muss man halt aufpassen." Das ist der Vorteil einer "Kulturdroge": Nach den Initiationsriten, wie Komasaufen auf dem Schützenfest, kommt der besorgte Staat mit dem Zeigefinger und mahnt zur Vorsicht. Was haben wir gelacht. Wie Herr Rätsch schon anmerkte: Der einzige Vorteil einer Alkoholsucht besteht in der staatlichen Kontrolle der Qualität des Stoffs und der unschlagbar hohen Verfügbarkeit. Muss man sich mal vorstellen: Plakataktionen für den "risikoarmen" Konsum von Amphetamin, Hasch oder Pilzen. Die Horrorbilder der Medienmaschine im Kampf gegen illegale Drogen werden ja hervoragend rezipiert und reproduziert. Man ist ja nicht betroffen, gell. Das ist der Nachteil einer Kulturdroge: Sie könnten natürlich viel drastischere Aufklärugnskampagnen über das wirkliche Gefahrenpotential von Alkohol fahren. Wenn Sie politischen Suizid begehen wollen. Stattdessen wird die kulturelle Grenze zwischen Normal und Asozial verteidigt. Ham Sie ja schon alles gesagt, sorry. Sie haben ein Buch geschrieben? Dann kennen Sie bestimmt auch S. Borowiak: "Alk". Empfehle ich jedem, der von piefigen Aufklärunsfibeln (ich meine nicht Ihr Buch, das kenne ich nicht) angepisst ist, und auch mal lachen will, auch wenns zum heulen ist.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Ist es denn eigentlich weniger anstößig, dass sich der überwiegende Teil der Bevölkerung derart grottig ernährt, dass Herz-Kreislaufkrankheiten, Krebs, Diabetes, Osteoporose, Adipositas immer mehr zunehmen? Wer von Sucht reden will, darf nicht von der Nahrungsmittelindustrie schweigen, die alles daran setzt, den Menschen mit Scheiße abzufüttern, ihn damit abhängig und so aus Dreck Gold zu machen. Dagegen ist das Alkoholproblem zu gewichten, das nur ein Teil des Gesamtproblem ist.

     

    Aus Ihren Ausführungen spricht hingegen der Fanatismus des Neophyten, der sich gegenüber dem alten Freund ganz besonders intolerant gebärdet.

     

    Wenn wir zudem alles verbieten müssten, was krebserregend ist, hätte Ottilie- und Otto Normalesser kaum mehr was, wovon sie oder er sich ernähren könnten. Dann würden nämlich u.a. Fleisch und Milchprodukte wegfallen.