Rebecca Harms über 30 Jahre „Tag X“: „Macht verschiebt sich stückweise“
Am 8. Oktober 1984 kam der erste Atommüll in Gorleben an: Ein Anlass zur Resignation war das nicht, sagt Grünen-Politikerin Rebecca Harms.
taz: Frau Harms, war der 8. Oktober 1984 eine Niederlage?
Rebecca Harms: Am Ende des Tages waren wir ausgetrickst. Der Transport war über die unwahrscheinlichste Route gekommen. Wie so oft sind wir aber nicht geschlagen, sondern mit ersten guten Erfahrungen in großen Blockaden nach Hause gegangen. Die haben wir seither ja oft gebraucht.
Und so kam der erste Atommüll in Gorleben an?
Das war noch kein hoch radioaktiver Atommüll in Castorbehältern. Es war nicht wärmeentwickelnder radioaktiver Müll in Fässern. Aber mit der Einlagerung begann ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung.
Kein Endpunkt?
Nein, als Endpunkt hat das niemand gesehen. Gerade auch dieser Transport hat die Region im Protest zusammengeschweißt.
Auch weil plötzlich erneut die Idee einer Wiederaufbereitungsanlage im nur wenige Kilometer von Gorleben entfernten Dragahn kursierte?
Das war eines der ganz irren Täuschungsmanöver! 1979, nach dem Treck nach Hannover und einer mehrtätigen Belagerungsaktion von Bohrfahrzeugen in Lüchow, hatte man uns versprochen: Die Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben sei politisch nicht durchsetzbar.
Das war eine Zusage?
Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte das gesagt. Er hat die mit besonderen Risiken verbundene Wiederaufarbeitung aus der Planung herausgeschnitten, um Akzeptanz zu schaffen. Als er dann nur 25 Kilometer westlich in Dragahn mit einem neuen Standort im Wendland kam – das war eine der Situationen, die das tiefe Misstrauen gegen die Politik forciert haben.
Gerade das Jahr 1984 hatten beide Seiten zum Entscheidungsjahr erklärt: Es gab ständig Aktionen, schon im März hatte der Spiegel vorm „heißen Frühjahr im Wendland“ gewarnt …
Der Widerstand gegen Gorleben hat auf zivilen Ungehorsam und gewaltlosen Protest gesetzt. Aber es kam immer wieder zu diesen Clashs bei oft sehr harten Polizeieinsätzen.
57, Filmemacherin und Politikerin, seit 2004 im Europäischen Parlament, dort Vorsitzende der Grünen-Fraktion. wuchs in einem Dorf bei Uelzen auf. Nach einer Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin zog sie mit Freunden auf einen leerstehenden Bauernhof im Landkreis Lüchow-Dannenberg. 1977 gehörte sie zu den Mitbegründern der Bürgerinitiative gegen ein atomares Endlager in Gorleben.
Laut Polizei gab es allein im Winter 1983/84 politisch motivierten Sachschaden im Wert von 2,5 Millionen D-Mark: Wie gewaltfrei ist das?
Für den Kern der Anti-Atom-Bewegung in Lüchow-Dannenberg, also für die Bürgerinitiativen und die bäuerliche Notgemeinschaft, stand von Anfang an fest, dass wir unsere Idee vom zivilen Ungehorsam nicht für vereinbar halten mit Aktionen, die Menschenleben gefährden. Das scheint mir bis heute wichtig für diese Bewegung.
War das nicht ein strategischer Nachteil?
Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, dass diese Bewegung anders keine Chance gehabt hätte. Es ist nicht durch Zufall die einzige regionale Bewegung mit beeindruckender Stärke und politischem Einfluss, die aus den 1970er- und 80er-Jahren geblieben ist.
Ist das Regionale auch deshalb so wichtig, weil es in den Städten eine militantere, oft studentische Anti-Atom-Bewegung gab?
Bei uns standen gewitzte Aktionen hoch im Kurs. Am liebsten Eulenspiegeleien, bei denen wir die scheinbar allmächtige Staatsmacht herausgefordert oder lächerlich gemacht haben, ohne dass wir dafür auf die Mütze gekriegt hätten. Zum Beispiel diese wunderbare Auseinandersetzung übers „Tag X“-Plakat „Verhindert die Atommülltransporte ins Wendland“. Das ist 1984 verboten worden mit der Begründung, es sei ein Aufruf zu Gewalt. Dann hat Joseph Beuys es signiert …
… im Mai ’85, auch um zu zeigen: Der Protest lebt noch.
So wurde es zum Kunstwerk – und wurde seither immer wieder vieltausendfach plakatiert.
Der Staat der 1970er und 80er war eher derbe drauf. Wäre Stuttgart 21 damals kein großer Skandal gewesen?
Zumindest gab es in Gorleben Schwerverletzte durch Wasserwerfer und wahnsinnige Prügeleien mehr als nur einmal. Tschernobyl war dann ein Ereignis, das die Auseinandersetzung verändert hat.
Tschernobyl hat die Polizei verändert?
Tschernobyl hat die Rolle der Anti-Atom-Bewegung verändert. Heute ist das sicher kaum vorstellbar, aber anfangs hat man uns, die Mitglieder der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, als Terroristen betrachtet. Wir sind als Terroristen verfolgt worden, als kleine, radikale, als irre und aberwitzige Minderheit. Unsere Häuser wurden durchsucht. Der Verfassungsschutz war dauerhaft auf uns angesetzt. Das wurde erst nach Jahrzehnten anders. Die Erfahrung der Katastrophe Tschernobyl, die ersten rot-grünen Regierungen – die Ziele der Anti-Atom-Bewegung gewannen immer mehr Zustimmung. Die kleine radikale Minderheit wurde mehrheitsfähig.
Allerdings scheinen Sie ja, wie die Traktor-Demos zeigen, ausgerechnet bei der Landbevölkerung nicht so umstritten gewesen zu sein!
Das täuscht. Die Region war wirklich konservativ. Unter anderem deshalb ist Gorleben Standort geworden. Albrecht und Co waren sich der Zustimmung sicher. Die eigentliche Leistung im Wendland ist es, dass wir uns so zusammengefunden haben.
Wie denn?
Indem wir von Anfang an nicht nur gegen die Pläne der Atomindustrie protestiert haben. Die positiven Alternativen für die Entwicklung der Region und eine andere politische Kultur gehörten zu unseren Waffen. In Deutschland wird oft von der Bürgergesellschaft geredet. Im Wendland existiert sie schon. Das ist der Stoff, aus dem unsere Ausdauer und unsere Erfolge gemacht sind.
Wobei der Protest die großen Motivationsschübe eher Katastrophen verdankt: Da war Harrisburg …
… das war genau während des Trecks nach Hannover, 1979 …
… dann 1984 die Havarie eines Brennstäbe-Frachters …
…die „Mont Louis“, ja! Der Untergang der „Mont Louis“.
… dann 1986 Tschernobyl, später Fukushima …
Das waren Situationen, in denen sich unsere Warnungen bestätigt haben: Dass die Risiken der Atomkraft nicht beherrschbar sind. Ich war in Tschernobyl und Fukushima. So wollte ich nie Recht bekommen.
Aber für die Mobilisierung war’s günstig?
Auch die SPD hat ihren Ausstiegsbeschluss erst 1986 nach Tschernobyl gefasst. Und dann hat es noch bis 1998 gedauert, bis eine rot-grüne Bundesregierung angetreten ist, den Ausstieg zu verwirklichen.
Als Umweltminister hat Jürgen Trittin sich und den Grünen damals gerade in der Anti-Atom-Bewegung vor allem Feinde gemacht, als dann 2001 wieder ein Castor nach Gorleben rollte.
Trittin war der erste grüne Umweltminister auf Bundesebene und er hat es geschafft, Weichen zu stellen. Natürlich war das viel weniger als gehofft. Die Macht verschiebt sich aber stückweise und nie ganz. Es gibt nie alles oder nichts. Das war für mich als Aktivistin und als grüne Politikerin ein Lernprozess.
Ein schmerzhafter.
Ein langer und andauernder.
Das müssen Sie besonders intensiv gespürt haben.
Ich habe Situationen erlebt, in denen ich auch im Wendland Spießruten laufen musste. Alles hat seine Zeit. Eine Anti-Atom-Bewegung tritt eben nicht an, um Kompromisse zu schließen.
Anders als eine Partei, klar. Aber viele sind aus der, etwa aus Ärger über die zu langen Fristen, ausgetreten. War das nicht zu viel Kompromiss?
Ich kam vor 20 Jahren in den Landtag in Hannover, nachdem sich eine rot-grüne Koalition vorher vier Jahre mit den besten Experten wirklich redlich bemüht hatte, zumindest den Meiler in Stade vom Netz zu kriegen – und gescheitert war: Dieser Kampf lässt sich nicht allein durch Vernunft und die besseren Argumente gewinnen. Ohne Fukushima hätte Angela Merkel den Ausstieg rückgängig gemacht.
Aber muss man ihn dann nicht gerade forcieren, wenn man am Drücker ist?
Das haben die Grünen getan. Vielleicht haben wir alle lange unterschätzt, wie hart der Widerstand der Industrie gegen die Energiewende sein würde. Wenn ich mir vorstelle, 1984 hätte mir jemand gesagt, ich würde 30 Jahre später immer noch darüber reden, warum der Salzstock in Gorleben nicht als Endlager geeignet ist, dann weiß ich nicht, ob ich durchgehalten hätte.
Da kommen Sie jetzt aber nicht mehr raus.
Nein, aber was man lernt in dieser Auseinandersetzung, ist, wie viel Geduld man braucht, um große gesellschaftliche Entscheidungen zu korrigieren.
Das wäre jetzt die Aufgabe der Endlagersuch-Kommission.
Die war anfangs von der Bundesregierung nicht gewollt und ist als Zugeständnis beschlossen worden, damit Niedersachsen dem Endlagersuch-Gesetz im Bundesrat zustimmt. Schade ist, dass die Kommission in diesem alten korporatistischen Model besetzt wurde, so und so viele Wissenschaftler, Gewerkschafts-, Kirchen-, Verbändevertreter, …
… also wie ein Rundfunkrat?
Das ist das Modell. Die Kommission darf nicht zu einem Club werden, in dem sich Gorleben-Gegner und -Befürworter gegenübersitzen und die alten Gräben neu graben. Wann, wenn nicht jetzt, sollen all die offenen Fragen, die sich über 40 Jahre angehäuft haben, endlich mal systematisch besprochen werden?
Trotz des Zeitdrucks?
Der wird suggeriert. Die Endlagerung in Deutschland kann frühestens 2060 beginnen. Man darf nichts verzögern, aber Sorgfalt und Gründlichkeit brauchen ihre Zeit. Ich denke, wir müssen die einer verantwortbaren Lösung geben.
Wächst damit nicht das Risiko, dass der Ausstieg noch einmal umgekehrt wird?
Ich sehe mit großem Misstrauen die neue Bereitschaft in der Europäischen Union, den Bau von AKW staatlich zu fördern. Dass die Lame Ducks der Barroso-Kommission diese Woche das Hinkley-Point-C-Projekt bewilligt haben, ist ein Skandal und ökonomischer Wahnsinn. Aber dass jemand versucht, in Deutschland ein neues AKW zu planen und zu bauen – das halte ich für ausgeschlossen.
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