Syrischer Arzt über US-Angriffe: „Wann haben Bomben je geholfen?“
Der Arzt Baschar al-Tammawi wurde von Assad bedroht und stand auf der Todesliste des IS. Trotzdem verurteilt er die Luftangriffe gegen die Terrormilizen.
taz: Herr al-Tammawi, Sie waren von Anfang an gegen die Luftangriffe auf den IS – dabei sind Sie selbst Opfer dieser Terrormilizen.
Baschar al-Tammawi: Das stimmt beides. Ich habe 18 Monate, bis August 2013 meist als einziger operierender Arzt in einem Rebellenkrankenhaus in Deir al-Sor im Osten Syriens an der irakischen Grenze gearbeitet. Die IS-Milizen waren damals noch keine eigenständige Gruppe, sondern es waren die Radikalsten innerhalb der Nusra-Front, dem syrischen Ableger von al-Qaida. Ich hatte keine direkten Probleme mit ihnen, aber Angst, dass sie sich über kurz oder lang gegen mich wenden würden.
Warum?
Dem IS geht es nicht um den Islam, das ist nur ein Vorwand. Ihnen geht es um Macht und die politische Gesinnung. Und alle Leute, die wie ich von einem demokratischen syrischen Staat träumen und darüber offen diskutierten, waren und sind ihre Feinde. Sie sagen dann, man wäre kein guter Moslem – aber das ist nur vorgeschoben. Denn alle demokratischen Muslime sind ihre Feinde. Es ist dann egal, ob es sich um Sunniten oder Schiiten handelt.
Und der IS hat Sie dann auf seine Todesliste gesetzt?
Ja. Im August 2013 musste ich etwas in der Türkei erledigen und als ich zurückkehren wollte, war mein Name bereits bei den Checkpoints hinterlegt.
Das heißt, die IS-Milizen hätten Sie umgebracht?
Wahrscheinlich. Vier meiner Freunde aus Deir al-Sor wurden im August erschossen.
34, Urologe aus Deir al-Sor im Osten Syriens. 2012 bis 2013 war er zeitweise der einzige operierende Arzt im Rebellenkrankenhaus „Al Nour“ und führte rund 1.000 OPs durch. Als das Assad-Regime seine Familie bedrohte, floh er noch Berlin und erhielt dort eine Aufenthaltsgenehmigung. Nun gilt es, eine Wohnung zu finden und Deutsch zu lernen, um eine Berufserlaubnis beantragen zu können.
Warum sind Sie dennoch gegen die Luftangriffe auf IS?
Weil mich das Schicksal der normalen Leute interessiert. Wird ihnen damit geholfen? Wenn ja, bin ich sofort dabei. Aber danach sieht es leider gar nicht aus. Gibt es irgendwelche Hilfsmaßnahmen für die Zivilisten, wenn bombardiert wird? Die Luftangriffe in meiner Heimatstadt Deir al-Sor trafen nur etwa zur Hälfte Stellungen des IS. Stattdessen hat man Getreidesilos und die Ölfelder bombardiert.
Aber der Winter steht vor der Tür, wie sollen die Leute jetzt heizen, wie an Brot kommen? Von den giftigen Dämpfen gar nicht zu reden. Wer weder IS noch Assad noch den US-Luftangriffen zum Opfer gefallen ist, wird jetzt von ihnen vergiftet. Wir sprechen von einer Region, in der es überhaupt keine medizinische Versorgung gibt. Klar, es ging darum, den IS finanziell zu schwächen. Aber die haben Millionen US-Dollar in Mosul durch die Übernahme der Bank erobert. Auf diese Weise wird man sie nicht bremsen können. Durch die US-Angriffe werden jetzt noch mehr normale Leute erkranken und voraussichtlich sterben. Das ist verrückt.
Man sollte den IS dennoch nicht einfach gewähren lassen, oder?
Natürlich nicht. Doch wann und wo hätten Bomben je gegen Islamisten geholfen? In Afghanistan? Im Irak? Keiner dieser Kriege konnte die Taliban oder al-Qaida stoppen. Im Gegenteil. Seitdem die USA in den Irak einmarschiert sind, sind schätzungsweise eine Million Iraker gestorben. 150.000 durch direkte militärische Angriffe und danach dreimal so viele durch das Sektierertum, das mit der Invasion einherging. Tausende islamistische Gruppen sind aufgrund dieses Krieges entstanden – der IS ist nur eine von ihnen.
Was müsste der Westen also gegen den IS unternehmen?
Zunächst müsste er die Gründe für seine Entstehung ernst nehmen. Im Irak war es die US-Intervention, in Syrien das Assad-Regime. Zudem müsste man den Leuten vor Ort die Möglichkeit geben, den IS ideologisch und politisch auszuhungern. Denn militärisch sind sie nicht zu besiegen.
Wie lässt sich der IS ideologisch bekämpfen, wenn er jeden mit abweichender Gesinnung tötet?
Viele, aber nicht alle IS-Anhänger sind so. Denken Sie an das, was die Alliierten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Sie haben es wirtschaftlich und bildungsmäßig unterstützt. Obwohl Deutschland der Aggressor war. Noch nie ist in die Zivilgesellschaft der arabischen Länder vergleichbar investiert worden.
Doch wenn die USA Assad-Truppen angreifen, werden Russland und der Iran nicht tatenlos zusehen. Manche halten in einem solchen Fall ein Weltkriegs-Szenario für möglich.
Das ist Unsinn. Die Bomben der USA-Golfallianz werden schon jetzt nicht auf den Mars geschossen, sondern schlagen in einem Teil von Syrien ein. Und die Russen machen nichts.
Russland und der Iran halten still, weil die Allianz Assad in Ruhe lässt. Das scheint der Deal zu sein: Wir bekämpfen nur den IS, das hilft letztlich Assad. Ist die Politik der USA insofern nicht auch deeskalierend?
Nur wenn einem 200.000 tote Syrer und 9 Millionen Flüchtlinge egal sind, kann man die Politik der USA und der Golfstaaten gutheißen oder als deeskalierend bezeichnen. Im September kurz vor den ersten Angriffen titelte die Washington Post: „US-Military planning Air-Strike against Sunni-Fighters“. Die Amerikaner halten den IS offenbar für Repräsentanten der Sunniten in dieser Region. Irgendwie scheint es, als ob sie neuerdings den Begriff des Terroristen nur noch mit Sunniten in Verbindung bringen mögen.
Doch worin unterscheidet sich der IS vom Assad-Regime? Von beiden geht Terror aus. Mit dem Unterschied, dass Assad bereits viel, viel mehr Menschen umgebracht hat. Seit vier Jahren töten das Regime, die Hisbollah und iranische Milizen die syrische Bevölkerung und weder die USA noch die EU haben irgendetwas dagegen unternommen. Und warum? Weil für sie das Leben eines Sunniten wertlos ist.
Was sollten die USA von einem Feldzug gegen Sunniten haben?
Sie werfen dem Assad-Regime damit einen Rettungsring hin. In der ersten Woche der Luftoffensive der USA und der Golfstaaten hat das Assad-Regime mehr als 20 Dörfer im Nordosten Syriens von der Freien Syrischen Armee (FSA)und den Rebellen zurückerobert. Die USA bomben den Weg für Assad frei. Deshalb sind die Luftangriffe der USA vollkommen inakzeptabel. Wenn wir Terroristen bekämpfen wollen, dann müssen wir alle Terroristen bekämpfen: die syrischen, die von Hisbollah, die der iranischen Milizen und die der Maliki-Milizen.
Wie enttäuscht sind Sie vom Westen?
Vollkommen. Doch darüber vergesse ich nicht, dass Russland uns die beiden größten Terroristen beschert hat: Assad und den IS. Bei Letzterem kämpfen viele aus Turkmenistan und Tschetschenien. Ja, und der Westen: Seit zwei Jahren wird die Situation für die Radikalen in Syrien immer attraktiver. Und trotzdem hilft der Westen den Moderaten nicht.
Was macht das mit Ihnen?
Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines sunnitischen Syrers: Seit vier Jahren werden Ihre Familie und Ihre Freunde getötet – und niemand kommt Ihnen zu Hilfe. Es gibt etwa drei Millionen Videos von der syrischen Revolution und den Verbrechen des Assad-Regimes. Und immer hören wir vom Westen, dass ihre Echtheit nicht überprüft werden kann. Bei den drei Videos von IS, die die Enthauptung der Männer aus dem Westen zeigen, war die Überprüfung kein Problem. Dass sie echt sind, wusste man innerhalb kürzester Zeit. Angesichts dieser ständigen, direkten oder indirekten Parteinahme für das Assad-Regime wird ein Teil seiner Opfer natürlich aggressiv, vielleicht sogar radikal. Wen kann das verwundern?
Wird die beabsichtigte Staatenbildung von IS erfolgreich sein?
Wenn Assad bleibt, ist das gut möglich. Doch wenn er fällt, gibt es für die Syrer keinen Grund mehr zum IS zu gehen.
Hat der Siegeszug der IS-Milizen Ihre Haltung zur Gemeinschaft der Sunniten verändert?
Nein, warum denn? Christliche Terroristen demontieren ja auch nicht den christlichen Glauben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel