New York und Cannabis: Warten auf die THC-Sky-Lounge
Die „Denver Post“ in Colorado hat bereits einen Potkritiker, während sich New York noch im Cannabis-Paläolithikum befindet.
Über die Jahre sind die Kunden, die sich regelmäßig im 10. Stock des noblen Hauses in der Nähe des Union Square in New York bei Catcat O’Brien – so der Geschäftsname der Mariuhana-Dealerin – einfinden, längst zu Freunden geworden. Darunter ein Schauspieler, ein Musikagent, ein Cartoonist, ein Investment-Banker, eine Yogalehrerin – nette Leute allesamt, nur: „Sie wollen sich hinsetzen und endlos plaudern – furchtbar“, sagt die 60-jährige Künstlerin, während sie in einer ramponierten Vintage-Handtasche aus einem Gürteltierpanzer nach Streichhölzern für ihren Joint kramt.
Ihre Angewohnheit – oder Therapie, denn Catcat leidet unter eigendiagnostizisiertem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom – kostet sie 100 Dollar pro Woche, ein Siebtel ihrer Einkünfte von den „lebenslangen Kiffern“ im Alter von 55 bis 75 Jahren. Die Wohnung gehört ihr, ein Überbleibsel aus besseren Tagen als Galeristin, so kann sie überleben. Catcat könnte weit mehr verdienen, wenn sie neben dem Pflanzenprodukt aus Kalifornien auch noch Potcookies offerierte, dahin geht der Trend.
Das Grundrezept ist einfach genug: „1 Riegel Butter, (1)/2 Tasse zerbröseltes Cannabis, 2 Tassen Wasser auf kleiner Flamme kochen, dann dein jeweiliger Lieblingsteig“, sagt die in ihren Kreisen legendäre Gastgeberin. Doch der verräterische Gestank hält sie davon ab. Obwohl die Grasschwaden seit der Amtsübernahme des progressiven New Yorker Bürgermeisters de Blasio in ihrer eleganten Gegend überall zu riechen sind: rund um den schmucken Park, in der Mittagspause vor den Toren der Bürogebäude, auf den Treppenstufen der Brownstones. Für Kundschaft von außerhalb stopft Catcat O’Brien jedoch ihre Ware sicherheitshalber in eine Kaffeedose, die selbst einen hochtrainierten Beagle am Flughafen an der Nase herumführt.
In den weniger feinen Vierteln von New York wird Weed dagegen nicht so schamlos geraucht: In Ghettos wie Brownsville oder in den Sozialwohnsiedlungen der Bronx verzichten junge Afroamerikaner längst auf den High-Five-Gruß, der bei der omnipräsenten Polizei schnell den Verdacht auf einen Drogentransfer im Vorbeigehen weckt. Und während der neue Bürgermeister nicht zuletzt auf einer Marihuanawolke in der City Hall landete, hat sich seine Pro-Pot-Position in den Armenvierteln bisher nicht bemerkbar gemacht, im Gegenteil: zwischen März und August dieses Jahres wurden 15.324 Personen wegen öffentlichen Marihuana-Besitzes festgenommen, 500 mehr als im gleichen Zeitraum 2013, als noch der „Stop and Frisk“-Enthusiast Bloomberg an der Macht war.
Zwar waren auch schon unter seiner Regierung die Verhaftungen von Marihuana-Sündern von 50.000 im Jahr 2011 dank öffentlichen Unmuts fast um die Hälfte geschrumpft, doch wandern auch heute noch mehr Menschen in New York wegen Pot ins Gefängnis als in irgendeiner anderen Stadt der Welt.
Das Stigma der Stonerszene
Die unter Giuliani entwickelte Theorie, dass in jedem Cannabiskonsumenten ein zukünftiger Schwerverbrecher schlummere, wurde zwar von einer Studie der Organisation Human Rights Watch anhand von 30.000 Fällen eindeutig widerlegt, doch scheint die New Yorker Polizei dem Konzept nach wie vor verpflichtet. Im Sommer plädierte die New York Times mit einem ungewönlich expliziten Leitartikel für die Abschaffung der nationalen Marihuana-Prohibition, unter der in erster Linie junge afroamerikanische Männer zu leiden haben: in New York waren es auch 2014 wieder zu 89 Prozent Schwarze und Latinos, die wegen Cannabisbesitz verhaftet wurden, obwohl sie keineswegs mehr konsumieren als Weiße.
Auf Druck der Presse verkünderte de Blasio, dessen Wahlkampagne unter dem von Dickens entliehenen Motto der „Geschichte aus zwei Städten“ und dem Versprechen ihrer Zusammenführung stand, am 10. November 2014 endlich die Entkriminalisierung von Marihuana in kleinen Mengen und die Aufhebung der damit verbundenen rassistischen Praktiken. Ab jetzt wird eine amerikanische Unze Pot wie ein kleines Verkehrsdelikt behandelt, ohne Fingerabdrücke, Handschellen oder die Aufnahme von Personalien. Was mit den Vorstrafenregistern von Hunderttausenden New Yorkern passieren wird, ist in unserer Ära der chronischen Überwachens und des ewigen Nichtvergessens noch nicht geklärt.
Auch der Konsum von Marihuana für medizinische Zwecke, der inzwischen in 23 US-Staaten legal ist, unterliegt in New York – der Stadt und dem Staat mit den strengsten Drogengesetzen im ganzen Land – besonders komplizierten Auflagen, zu denen das strickte Rauchverbot für Cannabis zählt, um nur ja das Stigma der Stonerszene zu vermeiden.
Vertraute und verträumte Eskapismen
Dass die sedierende und schmerzlinderte Substanz bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts weltweit eines der am weitesten verbreiteten Heilmittel war, ehe sie in den USA als Droge von Minderheiten dämonisiert wurde, ist fast vergessen. Zudem ordnet die Bundesregierung Marihuana hartnäckig seit 44 Jahren derselben Kategorie zu wie Heroin, obwohl es keine dokumentierten Todesfälle durch Cannabisüberdosis gibt und natürlich keine vergleichbare Abhängigkeit besteht. Wohl aber eine gewisse konterkulturelle Affinität, die schon zu einem statistisch kaum erfassten Exodus aus New York an die potfreundliche Westküste führte, wo man unschwer an ein Rezept kommt – wer leidet nicht an Panikattacken?
Akuter als diese vertrauten und verträumten Eskapismen ist die gegenwärtige Aufrüstung von Pharmaunternehmern in Erwartung der Eröffnung der ersten 20 New Yorker Pot-Apotheken in 13 Monaten. So trifft sich seit Mai 2014 die Cannabis & Hemp Association wöchentlich zu Planungssitzungen für Multimillionen-Dollar-Investitionen in den erhofften Boom. Auch ein berühmter Wall-Street-Wolf buhlt gerade um eine staatliche Lizenz für ein Medikament auf Cannabisbasis gegen eine tödliche Gehirnerkrankung. Im vergangenen Monat versammelten sich 900 Entrepreneure, darunter Risikokapitalgeber, Chocolatiers sowie eine Handvoll Ärzte, zur dreitägigen Cannabis Business Expo in einem Midtown-Hotel, organisiert von Veteranen der Sonnenstudiobranche.
Einer der Sprecher, Partner der Beratungsfirma MedMen, nannte das Ereignis „sexy“, denn immerhin ging es um Drogen, wenn auch für Epilepsie, Aids und multiple Sklerose. Und – wie in den nun ja angeblich vergangenen unsoliden Zeiten – um Cash: da die Bundesregierung jegliche Verwendung des psychoaktiven Krauts als schwerwiegendes Delikt betrachtet, waren Banken bisher nicht in Finanztransaktionen involviert, das soll sich nun durch eine neue Regelung auf bundesstaatlicher Ebene ändern.
Leute mit Sophistication
Auch die Gewerkschaften stehen in den Startlöchern, denn nach zwei Jahren harter Lobbyarbeit haben sie erwirkt, dass Lizenzen nur an gewerkschaftlich organisierte Arzneiausgaben vergeben werden. Und nach 40 Jahren unbeirrter Präsenz an der windigen Peripherie will nun auch das Magazin High Times wohlverdient in das neue goldene Zeitalter des Tetrahydrocannabinols einsteigen, zunächst mit einem 300 Millionen Dollar Aktienfond.
In Colorado, einem der beiden US-Staaten, in denen auch der freizeitliche Konsum von Pot gestattet ist, sind altmodische Hippiestoner allerdings eher verpönt. Die schicken Mädchen von der Werbefirma Cannabrand vermarkten ihr „Produkt“ – vorzugsweise per Vaporizer inhaliert – an Leute mit Sophistication. Die Denver Post, Colorados älteste Tageszeitung, hat einen mit überdurchschnittlichen Geschmacksnerven ausgestatteten Potkritiker, der über botanische Variationen wie 303 Kush, Sour Diesel oder Tangerine Haze Rezensionen liefert, deren Vokabular mit dem eines Pariser Sommeliers konkurrieren kann. In den Rockies bindet man nun Hanfblätter und -knospen in Hochzeitsbouquets, die getrocknet und zum ersten Hochzeitstag geraucht werden. Eine neue Gattung cannabishaltiger Desserts, Pralinen, Gummiebärchen steht für die Connaisseurs bereit.
New York befindet sich eindeutig noch im Cannabis-Paläolithikum, aber es bedarf keiner großen Fantasie, um sich eine THC-Sky-Lounge in einer 79. Etage mit Hudson-Panorama oder eine ultracoole, psychedelische Vapor-Vamp-Grotte in Brooklyn vorzustellen.
Und ein Politiker, der den Vorteil von voraussichtlich 400 Millionen Dollar in Steuereinnahmen gegenüber 75 Millionen an jährlichen Inhaftierungskosten nicht erkennt, kann eigentlich nur total breit sein.
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