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Kolumne AfrobeatDas nigerianische Paradox

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

In Nigeria ist der Wahltermin um sechs Wochen verschoben worden. Sechs Wochen mehr, in denen das Land wieder einmal seine schlechten Seiten zeigt.

Das nigerianische Militär bezieht Stellung bei Verkündung der Wahlverschiebung. Bild: ap

E s ist ein atemberaubendes Drama, das Nigerias Politik dieser Tage liefert. Eine Woche vor Präsidentschafts- und Parlamentswahlen selbige um sechs Wochen zu verschieben, und zwar mit Hinweis auf eine Sicherheitslage, die schon vorher schlecht war –, dazu gehört einiges an Unverfrorenheit. So manche Beobachter sprechen schon von einem kalten Militärputsch.

Denn je näher der Wahltermin des 14. Februar gerückt war, desto stärker kündigte sich eine Niederlage des amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan an. Der aus einfachen Verhältnissen aufgestiegene Lehrer aus den unruhigen Ölgebieten, seit knapp fünf Jahren Staatschef, erscheint als tragische Figur: voller guter Absichten, aber in der skrupellosen Machtelite zu leichtgewichtig gegenüber den Generälen, Millionären und Mafiabossen.

Jonathans fünf Jahre an der Macht sind gekennzeichnet durch den spektakulären Aufschwung der Islamistengruppe Boko Haram, die sich von einer Sekte in der Stadt Maiduguri zu einer starken Rebellenarmee gemausert hat. Goodluck Jonathan hat nie glaubhaft machen können, dass es ihn als Christ aus dem äußersten Süden sonderlich interessiert, wenn die Muslime in den fernen nordöstlichen Savannen Richtung Tschadsee vertrieben und abgeschlachtet werden.

Nigeria, Vitrine Afrikas

Eigentlich müsste Nigeria eine Vitrine Afrikas sein: wie in einem Brennglas bündeln sich hier die ganze kulturell-religiöse Vielfalt, der ganze ökonomische Erfindungsreichtum und die ganze gesellschaftliche Dynamik. Jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer. Ein Präsident, der dieses Land in seiner ganzen Vielfalt zu führen und zu repräsentieren wüsste, wäre unangefochtener Führer des Kontinents.

Aber wohl auch deswegen gibt es keinen einzigen Nigerianer, der dies kann. Nigeria funktioniert nur als Kompromiss; wer dies verkennt, führt das Land früher oder später in die Katastrophe, ob sie Boko Haram heißt oder Biafra. Seine brutalste Zeit erlebte Nigeria nach der Annullierung der freien Wahlen vom 12. Juni 1993, als eigentlich schon einmal eine Militärherrschaft enden sollte. Nicht Wahlsieger Moshood Abiola wurde Präsident, sondern General Sani Abacha, der ein Terrorregime errichtete.

Als Abacha nach weniger als fünf Jahren in den Armen einer Prostituierten starb, gelang den Eliten des Landes ein historischer Kompromiss: die herrschende Militärelite aus dem Norden ging mit der vom Militär unterdrückten Unternehmerelite aus dem Süden zusammen. Das Opfer dieses Kompromisses war Abiola, der in der Haft starb. Die Verkörperung dieses Kompromisses war der gewählte Präsident Olusegun Obasanjo, der sowohl aus dem Süden kam als auch früher einmal als Militärdiktator regiert hatte. Der Träger dieses Kompromisses ist Obasanjos PDP (People’s Democratic Party), die bis heute regiert.

Aber es ist schiefgegangen. Erst fand Obasanjo im Jahr 2007 nach zwei vierjährigen gewählten Amtszeiten, er könnte eigentlich auch noch weitermachen. Eine dafür angestrebte Verfassungsänderung scheiterte, bei den Wahlen 2007 übernahm für die PDP Umaru Musa Yar’Adua – ein Zivilist aus dem Norden und Freund Obasanjos, also wieder ein Kompromiss. Aber Yar’Adua starb 2010. Die Macht ging an seinen Vize über – Goodluck Jonathan. Das war kein Kompromiss mehr.

Heute ist Nigerias Demokratie sechzehn Jahre alt, und von diesen 16 Jahren hat der Süden also 13 Jahre lang den Präsidenten gestellt, der Norden nur drei. Die PDP-Machtzirkel haben abgewirtschaftet. Nie standen die Chancen so gut, an der Wahlurne einen Machtwechsel herbeizuführen.

Und nun, wo der Machtwechsel in greifbarer Nähe schien, können die Wahlen plötzlich nicht termingerecht stattfinden? Kein Wunder, dass die Opposition schäumt: Jonathan und die PDP würden den Krieg gegen Boko Haram absichtlich verlieren, um ihre Wahlniederlage unmöglich zu machen, und sie hätten die Generäle für ihr schmutziges Spiel gekauft.

Über Leichen gehen

Faktisch wird damit der Regierung unterstellt, sie würde über die Leichen der Nordostnigerianer gehen. Aber diesen Verdacht haben so manche schon länger. Die über 200 vor zehn Monaten aus einem Internat in Chibok entführten Schulmädchen sind immer noch verschwunden. Präsident Goodluck Jonathan äußert sich zum Charlie Hebdo-Attentat in Paris, nicht aber zu einem zeitgleichen Massaker an Hunderten Zivilisten durch Boko Haram im eigenen Land. Der Armee des Tschad gelingt scheinbar mühelos die Rückeroberung von Boko-Haram-Positionen, an denen sich Nigerias Streitkräfte die Zähne ausbeißen.

In einer Hinsicht hat Goodluck Jonathan doch Glück. Denn sein Widersacher bei den Wahlen ist kein Erneuerer, sondern ein weiterer ehemaliger Militärdiktator: Muhammadu Buhari, der die Wahlen von 2003, 2007 und 2011 alle haushoch verloren hat. Dank einer klugen Allianzbildung und seines staatsmännischen Nimbus wittert der mittlerweile 72-Jährige jetzt zwar reelle Siegeschancen, aber ein Nigeria des 21. Jahrhunderts sieht anders aus.

Nigeria ist nicht nur die Vitrine Afrikas, sondern verkörpert auch seine Zukunft. In Nigeria werden mehr Babys geboren als in ganz Westeuropa, bis Mitte des Jahrhunderts dürfte das Land die USA bevölkerungsmäßig überholt haben. Der Großraum Lagos ist der größte megastädtische Raum Afrikas, Nigerias Unternehmer sind die reichsten des Kontinents. Was das Land lähmt, ist seine dysfunktionale Politik, in der Dynastien und Clans bestimmen, Gewalt und Korruption legitime Machtmittel sind und das Volk ausgeschlossen ist.

Sechs Wochen länger als geplant wird die Welt jetzt zusehen können, wie diese finstere politische Kultur Nigeria in ihrem Bann hält. Sechs Wochen, in denen die Nigerianer faktisch Geiseln von Boko Haram sind, in deren Hand es liegt, ob der neue Wahltermin 28. März machbar ist. Sechs Wochen, in denen Nigeria wieder einmal alle seine schlechten Seiten zeigt. Je länger das so geht, desto weniger Hoffnung besteht darauf, dass sich daran etwas ändert. Aber zugleich wird immer unwahrscheinlicher, dass die Nigerianer der jungen Generation das weiterhin tatenlos hinnehmen.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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