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„Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir bleiben“

DIE OPPOSITIONELLE In der DDR träumt Christiane Schidek von Freiheit. Sie zieht nach Ostberlin, trifft Silvio Meier und verliebt sich. In der Wendezeit besetzen sie ein Haus in Friedrichshain, endlich können sie sich verwirklichen. Doch 1992 wird Schideks Lebensgefährte von Neonazis erstochen. Nun wurde eine Straße nach Meier benannt

Christiane Schidek

■ 1959 in Rostock in einem bürgerlichen Elternhaus geboren. Ausbildung zur Wirtschaftskauffrau, dann Ökonomie-Fernstudium. 1985 Umzug in ein von Alternativen bewohntes Haus in Philippsthal bei Potsdam, 1987 dann nach Ostberlin.

■ Dort lernt sie Silvio Meier kennen. Beide werden Teil der „Offenen Arbeit“ und der Oppositionsgruppe „Kirche von Unten“. Zusammen bringen sie das konspirativ hergestellte Infoblatt mOAningstar heraus und beteiligen sich an unabhängigen Wahlbeobachtungen.

■ Nach dem Mauerfall, zu Silvester 1989, besetzen Schidek und Meier das Haus in der Schreinerstraße 47 mit. 1991 wird ihr gemeinsamer Sohn Felix geboren. Im November 1992 wird Silvio Meier von einem Neonazi erstochen, nachdem er dessen Gruppe im U-Bahnhof Samariterstraße auf ihre rechten Aufnäher angesprochen hatte.

■ Schidek lebt noch in Friedrichshain. Sie arbeitet als Sachbearbeiterin und Finanzbuchhalterin bei einem gemeinnützigen Institut zur Evaluation von Kindertagesstätten.

■ Am gestrigen Freitag wurde die Gabelsberger Straße nahe dem U-Bahnhof Samariterstraße in Friedrichshain nach Silvio Meier umbenannt. (taz)

INTERVIEW KONRAD LITSCHKO UND SEBASTIAN PUSCHNER, FOTOS PIERO CHIUSSI

taz: Frau Schidek, in Berlin gibt es seit gestern eine Straße, die nach Ihrem einstigen Lebensgefährten Silvio Meier benannt ist. Wie fühlt sich das an?

Christiane Schidek: Einerseits ist es sehr befremdlich. Als die Initiative zur Umbenennung aufkam, habe ich gesagt: Nee, das geht gar nicht! Für unseren ganzen Kreis war Silvio ein Freund, für mich zudem der liebste Mann. Keine öffentliche Person. Andererseits ist es aber auch eine Freude.

Inwiefern?

Der Straßenname ist ja eine Ehrung, ein Symbol für all die anderen Opfer rechter Gewalt. Hinter der Initiative zur Umbenennung stehen junge, sehr engagierte Menschen, das haben wir im Laufe der Treffen mit ihnen mehr und mehr gemerkt.

Was hätte Silvio Meier denn dazu gesagt?

Der hätte gesagt: Niemals im Leben! Deshalb war die ganze Sache ja für mich und viele Freunde anfangs so schwierig.

Was sagen die Freunde heute?

Einer meinte neulich, da wisse er zumindest, wer hinter den Straßen steht. In Berlin gibt es ja heute noch Straßennamen, bei denen man sich wirklich fragen muss, warum sie so benannt wurden. Und einer sagte im Scherz, warum wir nicht dafür gesorgt haben, dass die ganze Frankfurter Allee nach Silvio umbenannt wird.

Auf dem Schild steht unter Silvio Meier: „Engagiert in der unabhängigen DDR Friedens- und Menschenrechtsbewegung und Hausbesetzung. Wurde aufgrund seines antifaschistischen Auftretens ermordet.“

Silvios Eltern taten sich erst ganz schwer mit dem Hausbesetzer, weil sie immer gesagt haben, dass er doch so viel mehr war als ein Hausbesetzer. Wir Freunde haben aber gesagt, das muss mit auf das Schild. Silvio war eben auch Besetzer. Und noch viel mehr: Freund, Antifaschist, Teil der Opposition in der DDR.

Silvio Meier hat einmal gesagt, er habe sich für einen „freien Sozialismus ohne Staatsdoktrin“ eingesetzt. Was war Ihr Antrieb, sich in der DDR-Opposition zu engagieren?

Die Veränderung des Regimes. Das war so verknöchert, da ging ja gar nichts mehr! Und diese ständige Stasibeobachtung, diese Unmöglichkeit, sich frei zu bewegen! Wir, die bei der Stasi bekannt waren, haben ja nicht einmal mehr ein Visum für Ungarn bekommen.

Wie sind Sie zur Oppositionellen geworden?

Wir waren eine kleine Gruppe in Rostock, die sich getroffen und diskutiert hat, doch offene Aktionen trauten wir uns noch nicht. Aber als in der DDR sowjetische SS-20-Raketen stationiert werden sollten und in den Betrieben dafür Unterschriften gesammelt wurden, da habe ich gesagt: Ich werde einen Teufel tun, das zu unterschreiben. Dann bekam ich gleich zu hören: Wenn du das nicht unterschreibst, ist dein Studium gefährdet. Ich hab’s trotzdem nicht unterschrieben.

Sie sind dann nach Berlin gegangen. Wie haben Sie Silvio Meier kennengelernt?

Beim Olof-Palme-Friedensmarsch 1987, in der Schönhauser Allee. Wir waren beide in der offenen Arbeit engagiert, haben versucht, in der evangelischen Kirche einen Freiraum für junge Menschen zu schaffen. Es ging vor allem darum, unter dem Deckmantel der Kirche für die eigene Arbeit einen gewissen Schutz zu bekommen.

Sie haben auch gegen eine Mülldeponie demonstriert, in Schöneiche, in Brandenburg.

Ja, das war alles so verlogen! Es ging immer gegen den Westen, aber für tolles Westgeld den Westberliner Müll in die Natur zu schütten, das ging natürlich. Dagegen wollten wir demonstrieren, zusammen mit ein paar Robin-Wood-Leuten aus Westberlin. Aber wir hatten das so konspirativ organisiert, dass wir am Ende nur vier, fünf Leute waren! Trotzdem stand natürlich ein Auto der Stasi in Schöneiche, und wir wurden wieder die ganze Nacht verhört.

Und dann?

Dann mussten sie uns wieder gehen lassen. Sie hatten ja nichts in der Hand. Wir sagten, wir hätten nur spazieren gehen wollen.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, die DDR zu verlassen?

Doch, das war ein großes Thema. Silvio und ich hatten beide Geschwister, die Ausreiseanträge gestellt hatten. Meine Schwester kam in den Knast. Sein Bruder wurde deswegen politisch inhaftiert und ist danach in den Westen freigekauft worden. Allein wegen der Angst, beide nicht wiederzusehen, war Ausreise ein Thema. Am Ende haben wir aber immer gesagt: Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir bleiben und hier etwas machen.

Verändert hat sich dann ja vieles sehr schnell. Hatten Sie das geahnt, Ende der Achtziger?

Nein, mit dieser großen friedlichen Revolution hatten wir nicht gerechnet. Klar, es gab so eine Ahnung, so ein Flüstern: Lange halten die sich nicht mehr. Deswegen hatten wir uns 1989, zum 40. Jahrestag der DDR, vorgenommen, einmal diese große Militärparade anzugucken.

Wie bitte?

Ja, wir wollten uns das mal reinziehen, denn wir hatten es noch nie gesehen und dachten: Wer weiß, wie lange es das noch gibt? Als wir losliefen, hatten wir schon die Stasi im Schlepptau, wie immer, aber das hat uns nicht gejuckt. Weit sind wir aber nicht gekommen: Am Bersarinplatz haben sie uns an einer Sperre aufgehalten, wir durften uns die Militärparade nicht angucken. Doch ich hatte etwas von einer Demo auf dem Alexanderplatz gehört.

Dort haben Tausende „Freiheit, Freiheit“ skandiert.

Ja, die Demo wurde dann von Polizisten und Stasi-Leuten geteilt. Wir versuchten die Polizeiketten zu durchbrechen und die Demo-Teile wieder zusammenzuführen. Dabei wurde Silvio verhaftet. Genau einen Monat nachdem meine Schwester aus dem Gefängnis freigekommen war. Ich hatte total Angst, dass jetzt er für anderthalb Jahre im Knast sitzt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass alles so schnell geht.

Doch Ihre Vorstellungen von der Zukunft traten nicht ein.

Auf gar keinen Fall. Wir waren ja wirklich der Meinung, wir schaffen es, hier einen eigenen Staat aufzubauen. Es war so peinlich, als wir nach Kreuzberg rüber sind und dort die DDR-Bürger standen und ihre Ausweise für Bananen und Schokolade hochgehalten haben: Bananen, Schokolade und Helmut Kohl – die Masse wollte das. Wir waren einfach ein viel zu kleiner Teil.

Sie sind bis heute im Bürgerkomitee 15. Januar aktiv, das sich der Aufarbeitung des SED-Regimes widmet. Warum lässt Sie das Thema nicht los?

Gerade durch die Zeit im Bürgerkomitee habe ich so viele Opfer getroffen, die von der Stasi verfolgt wurden und jahrelang im Knast saßen. Hochintelligente Menschen, die es wegen ihrer Traumatisierung nie mehr geschafft haben, sich etwas aufzubauen. Und wenn ich dann mitbekomme, wie Stasibonzen vom besten Rentengeld leben, sich keiner Schuld bewusst sind und sagen, sie hätten es doch nur gut gemeint, dann finde ich das nach wie vor dermaßen ungerecht.

Im Dezember 1989 haben Sie mit Silvio Meier und anderen die Schreinerstraße 47 in Friedrichshain besetzt.

Wir wohnten alle total weit auseinander, im ganzen Bezirk verstreut. Und wir hatten immer schon den Wunsch, einmal zusammenzuleben. Als die Wende kam, erfüllten wir uns diesen Wunsch. Silvio und ein paar Freunde sind losgezogen, haben nach freien Häusern gesucht: in der Mainzer Straße, in der Kreutziger, aber das schien ihnen alles zu runtergekommen. Dann haben sie die Schreiner entdeckt, da wohnten zwar noch ein paar vereinzelte Leute, aber zu Silvester sind wir trotzdem rein.

Und dann?

Ein Nachbar hat sogleich eine verantwortliche Frau von der Wohnungsbaugesellschaft geholt. Nur mit dem Mantel über ihrem Schlafanzug stand die Frau dann da und war entsetzt. Wir haben sie auf ein Glas Wein eingeladen und wenig später meinte sie: Ihr seid ja alle nette, junge Leute! Aber könnt ihr nicht wieder ausziehen? Nö, haben wir gesagt, können wir nicht.

Silvio Meier war sehr skeptisch, dass die besetzten Häuser zu halten sind. Aber die Schreiner 47 gibt es noch heute als selbstverwaltetes Projekt.

Aber es ist ja auf alle Fälle schwerer geworden, solche Freiräume zu halten. Wenn du heute ein Haus besetzt, lebst du nicht lange darin. Das war damals eine besondere Zeit – noch DDR, aber eigentlich nicht mehr – dadurch war das möglich. Alles war so offen, auch politisch. Jetzt ist alles so festgelegt.

„Ich habe immer wieder geträumt, dass er einfach nur mal die Nase voll hatte und abgehauen ist“

Trauern Sie den alten Zeiten nach?

Die steigenden Mieten sind natürlich nicht schön, die Verdrängung nicht nur in Friedrichshain, sondern in vielen Kiezen. Aber es ist unmöglich, einen ganzen Bezirk so zu erhalten, wie er mal war.

Heute arbeiten Sie in einem Institut, das im Auftrag der Landesverwaltung Kindergärten evaluiert. Von der Oppositionellen zur Bürgerrechtlerin und Verwaltungsfrau: Haben Sie sich mit dem System versöhnt?

Ich mache natürlich nicht mehr irgendwelche Aktionen, aber zu Demos gehe ich nach wie vor, setze mich für Sachen ein, die Bebauung des Todesstreifens an der East Side Gallery etwa ist eine Riesensauerei. Überhaupt hat keiner aus dem alten Kreis die Füße hochgelegt, alle setzen sich für etwas ein, der eine für die besetzte Köpi, der andere für Umweltschutz. Wenn ich selbst ein paar Jahre jünger wäre: Diese Femen-Frauen, die gerade erst wieder Putin erschreckt haben, das finde ich wirklich genial.

Mit Silvio hatten Sie erst ein paar Jahre zusammengelebt, in einer großen Gemeinschaft, als er 1992 getötet wurde.

Sein Tod war für mich anfangs überhaupt nicht begreifbar. Er wollte mit Freunden auf ein Konzert seines Bruders, ich wollte eigentlich auch mitkommen, wir hatten schon den Babysitter. Aber dann wurde ich krank und Silvio wollte dann erst selbst zu Hause bleiben. Quatsch, sagte ich, geh zu dem Konzert. Aber dann weck mich morgen früh, meinte er wieder. Nee, sagte ich, schlaf dich ruhig aus, dauert ja eh länger. Wenn du dich so verabschiedest und dann kommt jemand nie wieder zurück – das habe ich jahrelang nicht in den Kopf bekommen und immer wieder geträumt, dass er zurückkommt; dass er einfach nur mal die Nase voll hatte und abgehauen ist.

Wie haben Sie es geschafft, damit zurechtzukommen?

Als unser Sohn drei Jahre alt war, bin ich mit ihm für anderthalb Jahre nach Thailand, Bali und Malaysia gegangen. Es ging einfach nicht mehr, wir wohnten auch zu dicht an allem dran, in Friedrichshain. Erst durch den Abstand wurde ich ein bisschen gefestigter.

Welches Bild haben Sie heute vor sich, wenn Sie an Silvio denken?

Ich sehe einen ganz, ganz fröhlichen Menschen. Jemanden, mit dem ich viel Spaß gehabt habe. Einen Optimisten. Und natürlich war er ein ganz kritischer Mensch. Er war so jung, aber er hatte einen unheimlichen Weitblick, er hat so viel schon vorher geschnallt. Als uns Nazis 1987 in der Zionskirche angriffen, da war ich selbst zum ersten Mal mit rechter Gewalt konfrontiert. Aber Silvio hatte schon lange vorher gewarnt: Er war auch mal in staatliche Jugendclubs gegangen und hatte dort gesehen, wie viele Nazis es schon in der DDR gab, und er wusste, welche Gefahr dahintersteckt.

Heute gedenkt seiner die Antifa jedes Jahr im November mit einer Großdemonstration. Er wird dabei auch zum antifaschistischen Helden gemacht.

Um das zu verhindern, hätten wir rigoros sagen müssen: Wir wollen das nicht. Ich fand die Demo aber schon in den ersten Jahren toll, ich konnte nur selbst nicht hingehen, ich hätte es nicht ausgehalten. Inzwischen gehe ich jedes Jahr hin und empfinde es als etwas unwahrscheinlich Großartiges, all die jungen Menschen zu sehen. Natürlich kannten die Silvio gar nicht und kommen aus unterschiedlichsten Motiven. Aber sie machen etwas gegen Nazis. In einem Jahr bin ich die ganze Zeit neben einer älteren Frau gelaufen, das hat mich so gefreut.

Was glauben Sie: Wofür würde sich Silvio heute einsetzen?

Ich frage mich das oft, aber es ist schwer zu sagen. Was würde er heute machen? Würde er noch in seiner Druckerei arbeiten? Hätten wir noch ein Kind bekommen? Die Fragen kommen immer wieder. Nur wird es darauf nie eine Antwort geben.

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