: Vom Versenken der Werte
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Auf der Asphaltbrache am Checkpoint Charly drehte ein blauer Bus langsam große Schleifen. Es war kurz vor zwölf an einem Abend im Frühsommer l992. Als seine Scheinwerfer mich erfassten, hielt er an, ein alter Ostbus, Marke Ikarus, mäßig zerkratzt, mit fremdem Schild. Ein Mann stieg aus, in einer gelben Footballjacke, Mitte fünfzig, rote Base-Cap auf dem Kopf.
„Wo ist die Straße nach Magdeburg, bitte“, fragte er in hartem Englisch. Sie kämen aus Kiew, seien auf dem Weg nach Amsterdam, dreizehn Tänzerinnen, fünf Köche, hundertzwanzig Hühner. Sie wollten den Holländern zeigen, was ukrainische Kultur ist. Und was suchten sie hier, mitten in Berlin? Ach, sie wollten nur mal diesen berühmten Checkpoint sehen und vielleicht ein Bier trinken. Es war alles dunkel, also stieg ich mit dem Ukrainer in mein Auto und lotste den Bus durch die Stadt. „Für uns ist es zu spät“, sagte der ernste Mann mit der roten Base-Cap, „unsere Kinder haben eine harte Zeit vor sich. Aber unsere Enkel werden Europäer sein.“ Es war einer dieser vielen kleinen historischen Glücksmomente, auf die wir damals fahrlässigerweise gesetzt haben.
Ich musste an den blauen Ikarus denken, als vor zwei Wochen Juri Andruchowytsch auf der Leipziger Messe den Preis zur „Europäischen Verständigung“ erhielt. Er bedankte sich artig. Und dann regte er sich auf. Zitierte Verheugens Satz, dass „in zwanzig Jahren alle europäischen Länder Mitglieder der EU sein (würden) – mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die heute noch nicht in der EU sind“, und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf, sprach von den Verratsgefühlen der orangenen Revolutionäre, die einen Sommer lang Lieblinge der Westmedien waren und vor denen sich jetzt der biometrische Vorhang senkt: „Fingerabdrücke, wie es sich für die Verbrecher und Nutten dieser Welt ja auch gehört!“ Und er schloss: „Vielleicht hat Europa einfach Angst? Vielleicht hat es Angst vor Europa, vor sich selbst? Vielleicht verschließt es sich gerade deswegen vor uns, weil wir uns seine Werte so sehr zu Herzen genommen haben, dass sie zu unseren Werten wurden? Weil es selbst schon lange keinen Bezug mehr zu diesen Werten hat? Und das, was es im Grunde anstrebt, ist: sich nicht zu verändern.“
Standing Ovations. Und ein schwaches Echo. Ein junger SZ-Redakteur ließ sich von Andruchowytschs Pathos anstecken – „die SZ will auch weiterhin für Europa bluten“, spöttelte der Perlentaucher. „Tragisch“, kommentierte die Welt die Dichterworte, aber Europa würde sich mit jeder Lösung ins eigene Fleisch schneiden. Dann lieber doch die Werte versenken, mit Tränen der Rührung selbstverständlich.
Es wird bald nichts mehr zu versenken sein. Europa ist wenig mehr als ein schöner Gedanke, seit der Gipfel von Lissabon den „Washington Consensus“ übernommen hat: Steuern senken, Verkehr, Medien, Sozialsysteme privatisieren oder klein schrumpfen, Investitionsbedingungen verbessern. „Wozu ist Europa nütze, wenn es sich als Kopie der Vereinigten Staaten erweist?“, fragte damals sogar der ultraliberale Economist. Die Sozialdemokraten, die ein paar Jahre lang die Mehrheit der europäischen Regierungen stellten, haben kein „linkes“ Europa gewagt, jetzt müssen sie das rechte exekutieren. Und geknebelte linke Abgeordnete schreiben folgenlose Artikel.
Das Nein der Holländer und Franzosen war die Quittung. Und das ist wirklich tragisch. Denn es war, so zeigen es alle intensiven Analysen, kein Bekenntnis gegen Europa, sondern eine Misstrauenserklärung gegen politische Klassen, die keine Alternativen mehr kennen, der wachsenden Ungleichheit in Euro-Land nicht entgegensteuern und den Umbau des Sozial- zum Marktstaat befördern. Die Liberalen können mit dieser „Stagnation“ gut leben, sie beschleunigt das Business as usual, steigert die aggressiven Forderungen nach „noch mehr Reform“, verstetigt still den Abbau.
Eine Woche vor Juri Andruchowytsch hielt Jürgen Habermas in Wien eine fordernde, alarmierende Rede (www.renner-institut.at), die noch weniger Beachtung fand als die des ukrainischen Dichters, nämlich gar keine – erstaunlich, weil die Feuilletons bis vor kurzem jeden seiner Nebensätze, und seien sie in Seoul gefallen, aufnahmen. Kurz gefasst: Es müsse bis zur nächsten Europawahl gelingen, eine politische Einigung über konvergente Steuersätze und eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken zu erzielen, sonst sei die Zukunft Europas „im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden“, die Entfesselung der freien Märkte nicht mehr zurückzunehmen. Stagnation sei eine Entscheidung in ebendieser Richtung.
Und weiter: Nur Europa sei in der Lage, „in den bestehenden Institutionen der Weltwirtschaft eine Alternative zum herrschenden Washington Consensus zu fördern und innerhalb der UNO die überfälligen, (…) von den USA blockierten Reformen voranzutreiben“. Angesichts der machtpolitischen Hegemonie der Amerikaner, der Konflikte mit der islamischen Welt, von China und Indien – ergänzen wir: der kommenden Energie- und Rohstoffkrisen – überließen wir sonst „das Schicksal des europäischen Gesellschaftsmodells fremden Händen“.
Der entscheidende globale Kulturkampf spiele sich im Westen ab, ja im Innern der USA selbst. Europa komme nicht um eine Richtungsentscheidung herum. Praktisch gesprochen: Europa braucht, und das schnell, „einen eigenen Außenminister, einen direkt gewählten Präsidenten, eine eigene Finanzbasis“ und eigene Streitkräfte, damit „wir unseren eigenen Vorstellungen von Völkerrecht, Folterverbot und Kriegsstrafrecht treu bleiben“. Habermas forderte ein Referendum über all dies und bezog sich auf ein Manifest für die „Vereinigten Staaten von Europa“, das der belgischer Premier Guy Verhofstadt, von der Presse kaum beachtet, vor drei Monaten veröffentlicht hat (Auszüge: www.pickings.de/tiki-read_article.php?articleId=1252).
Die deutsche „Qualitätspresse“ schlägt sich lieber wochenlang mit ein paar dumpfen Blasen herum, die auf der Achse FAZ–Spiegel–Springer blubbern: Hymnen auf Blutsbande, Karriere-Frauen am Mutterpranger, und Bild spendiert 200 deutschen Paaren einen Zeugungsurlaub in der Türkei. Lebensborn auf liberal, Volk ohne Traum. In den Ruinen einer zukunftsblind und parochial erschlafften Öffentlichkeit frömmeln angestellte Symbolproduzenten, schwafeln von neuer Bürgerlichkeit und bauen aus Manufactum-Fertigteilen biedermeierliche Kulissen gegen die Angst vorm armen Europa, das auf seine abgelegten Werte pochen könnte.
Im Mittelteil seiner Wiener Rede analysierte Habermas, warum jeder Gedanke, jede moralische Erwägung, die zum Status quo quer liegt und zu einer Wende drängt, nicht mehr durchdringt. Und zu Anfang erinnerte er an die austromarxistischen Partei-Intellektuellen, die kantische Vernunftpostulate noch mit praktischer Politik verbanden. Der letzte Parteiintellektuelle in Deutschland, der diesen Namen verdiente, war Peter Glotz, und dessen letzte theoretische Erkenntnis hieß: Die märchenhafte Gier der Mittelschichten ist der härteste Brocken vor einer Wiedergeburt der Politik. Unsere Kinder haben eine harte Zeit vor sich. Und unsere Enkel werden was erleben.
Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin.
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