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In freier Wildbahn

Naturschauspiel und Volksbelustigung: der Fang der Dülmener Pferde. Mit Schweiß auf der Stirn, Schlamm an der Hose und mancher Prellung am Leib kämpfen die Häscher mit den Jährlingen

von STEPHAN SCHOMANN

Es herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Für die 300 Wildpferde im Merfelder Bruch, einem sumpfigen Waldgebiet unweit von Dülmen, scheint dieser Samstag Ende Mai anzubrechen wie jeder andere Morgen auch.

Sie stehen in Trauben beisammen, einige dösen vor sich hin, andere beknabbern einander den Nacken. Zartgliedrig wie Spielzeugpferdchen ruhen die Fohlen zu Füßen der Mütter, während ihre älteren Geschwister, die Jährlinge, munter die Herde erkunden. Für die jungen Hengste unter ihnen beginnt heute der Ernst des Lebens.

Eine Karawane von Bussen bahnt sich den Weg zu dem 350 Hektar großen Gehege, gefolgt von meist voll besetzten Autos aus der ganzen Republik. Der Fang der Wildpferde steht an. Die 25.000 Plätze des sich in eine Senke schmiegenden Amphitheaters sind wie jedes Jahr ausverkauft. In hellen Scharen pilgert das Publikum an die Wildbahn, wie das Gehege von alters her heißt. Die Dülmener bilden Deutschlands einzige bodenständige Kleinpferderasse, wenngleich sie kein einheitliches Bild mehr abgeben, denn dazu wurde zu viel eingekreuzt. Doch sie sind ein Naturdenkmal auf 1.200 Beinen.

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts zogen noch mehrere solcher Herden durch Westfalens Wälder. Aber nur diese hier hat überdauert, dank der Hege der Herzöge von Croy, zu deren Besitz sie seit 1847 gehört. Im Mittelalter wurden die Dülmener als Jagdwild, später als Kavallerie- und Arbeitspferde geschätzt, besonders in den Bergwerken des nahen Ruhrgebiets. Heute kommen sie fast nur mehr als Freizeitpferde zum Einsatz.

Unterdessen hat in der Arena das Vorprogramm begonnen. Während ein Spielmannszug in Holzpantinen zum Kehraus bläst, nimmt die herzogliche Familie auf der Ehrentribüne Platz. In ihrem Gefolge forstgrün gekleideter Landadel, dazu die Honoratioren der Stadt und des Kreises sowie der neue Abt. Die Herde hat für die Identität der Region Bedeutung.

Eine weihevolle Stille macht sich breit. 50.000 Ohren lauschen einer Naturgewalt. Jeden Moment werden die Häscher das Kesseltreiben eröffnen. Da – ein dicht gewebtes Grummeln naht, schwillt an, und im nächsten Moment donnern die Wildpferde auch schon herein. Einer Flüssigkeit gleich schwappt die Herde im Kelch des Stadions hin und her. Die Treiber, zwei Dutzend fescher Mannsbilder in blau gestreiften Leinenhemden, mit Jeans und rotem Halstuch, rennen hinterher, dann schließt sich das Tor. Umgehend machen sie sich daran, mal zehn, mal zwanzig Tiere von der Herde abzusondern. Als lebender Zaun drängen sie sie in eine Fangecke und gucken sich die Jährlinge aus.

Noch tragen diese keine Namen, noch hat kein Mensch sie je berührt. Jetzt aber fallen ihnen zwei, drei Kerle um den Hals und packen sie am Schwanz. Während der Rest der Gruppe unbehelligt in den angrenzenden Korral abgeschoben wird, stürmen sie mitsamt ihren zweibeinigen Anhängseln zurück in die Arena. Sie sollen, ganz wie im Judo, zu Boden geschleudert werden, damit man ihnen dann in Ruhe den Führstrick umlegen kann. Doch die Jährlinge wehren sich aus Leibeskräften. Steigen hoch, schlagen aus, bocken, beißen und rennen um ihr Leben. Und oft genug wirft das Pferd die Treiber zu Boden.

Behalten diese jedoch die Oberhand, so dirigieren sie die Wildfänge zur Feldschmiede am Tor, wo ihnen das herzogliche Wappen eingebrannt wird. Sie am Seil zu zerren, bringt wenig, sodass erfahrene Treiber sie meist seit- oder rückwärts drängen – ein Tango am Führstrick. Unterdessen sondern die übrigen bereits die nächste Gruppe ab. All das geschieht in hohem Tempo und an mehreren Stellen gleichzeitig, während die Hauptherde in der Mitte unruhig um sich selber kreist.

Das Publikum kommt mit dem Schauen gar nicht hinterher. Niemand hat mehr Augen für die Eisverkäufer, die kleinlaut durch die Reihen wandeln. Wenn ein Jährling den Häschern entwischt, erhält er Ovationen. „Dieses Temperament!“ Es kommt zu herzzerreißenden Szenen, wenn etwa im Tumult Fohlen von ihren Müttern getrennt werden, die dann empört wiehernd am Pferch entlanglaufen.

Viele der Fänger nehmen schon in zweiter oder dritter Generation an dem Spektakel teil. Was sie dafür qualifiziert, ist vor allem ihr Mut. Mit Schweiß auf der Stirn, Schlamm an der Hose und mancher Prellung am Leib stürzen sie sich unermüdlich ins Getümmel. Nach und nach schrumpft die Herde in der Arena, während die im Pferch wächst und die Jährlinge hinter der Feldschmiede ihr Schicksal erwarten.

37 Junghengste kommen diesmal zur Versteigerung. Die Treiber bilden ein Spalier, durch das die Herde zum Tor hinausprescht. Anschließend beginnt die Auktion, wofür die Kandidaten einer nach dem anderen vorgeführt werden. „Wildling Nummero 14: guter Rahmen, falbe Färbung“. Fünf Interessenten bieten mit. „… uuund 480 zuuum – Dritten!“ Peng! Zu diesem Spitzenpreis geht er an einen Kremserfahrer aus dem Westerwald. Andere wechseln für 250 Euro den Besitzer, die Nachfrage ist nicht sonderlich hoch. Einer wird als Gesellschafter für eine verwitwete Stute angeheuert, ein anderer findet Arbeit in einer ökologischen Gärtnerei, und der Studienrat aus Wuppertal ersteht ein Einstiegspferd für seine Tochter. Die Reihen des Stadions lichten sich. Weit hinten im Gelände steht die Herde im Schatten einiger Eichen beisammen. Die Fohlen wirken noch etwas verstört. Genießt eure Freiheit! Genießt jedes Büschel Gras und jede Zärtlichkeit der Mutter. Denn nächstes Jahr kommt die Reihe an euch.

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