: Täuschung aus Beton
STADTABWICKLUNG Noch immer laboriert der Hamburger Stadtteil Harburg an den Folgen seiner sogenannten Sanierung in den 60er- und 70er- Jahren. Sie war ein politisches Schurkenstück, von dem die großen Kaufhausketten profitierten, nicht aber die ansässige Bevölkerung, deren Wohnraum planmäßig vernichtet wurde
VON RAINER JOGSCHIES
Die Zukunft ist schon vorbei. Es war aber auch zu schön, um wahr zu sein. Bei der Internationalen Bauausstellung 2013 in Hamburg-Wilhelmsburg sollten – laut einem ihrer Leitmotive – „neue Räume für die Stadt“ gezeigt werden. Wohlweislich vergessen wurden dabei die alten Räume nebenan: Im Stadtteil Harburg hatte die IBA zwar Locations okkupiert, doch längst zuvor schon war Harburg – wörtlich – ruiniert worden. Seine Planung war ein heimliches, undemokratisches Verfahren, mehr ein Schurken- denn ein Lehrstück. Das hätte die IBA ansprechen müssen. So war sie nur das i-Tüpfelchen einer betonierten Täuschung.
Bereits 1961 hatte der damalige Bezirksamtsleiter in Harburg, Hans Dewitz, ein „vertrauliches Abkommen“ mit einem Makler geschlossen. Bis 1969 sollte der im Auftrag der Hansestadt, aber in fremdem Namen Grundstücke im Harburger Stadtkern unauffällig aufkaufen. Die Eigentümer wurden beim Verkauf nicht über die spätere Verwendung informiert: Die Kaufhausketten Hertie und Karstadt wollten dort investieren – auf Kosten und zu Lasten der Steuerzahler. Achtzig Prozent der Immobilien gingen so am Parlament vorbei heimlich in den Besitz der Stadt über.
Kein Einzelfall, keine Ausnahme. Es war vielmehr eine verschworene Generalprobe. Genau so wurden später noch weit größere und teurere Stadtzerstörungen erfolgreich von der Verwaltung inszeniert und rechtswidrig durchgezogen: Die Hafen-„Erweiterung“ in den intakten Obst- und Fischerdörfern Altenwerder und Moorburg und die Hafen-Schrumpfung für eine nichtsnutzige „Hafen-City“.
Nach einem Treffen von Planern am 30. Juli 1968 in der Senatskanzlei wurden die Konzerne, die die Grundstücke billiger von der Stadt bekamen, als wenn sie mit jedem einzelnen Eigentümer hätten verhandeln müssen, um „Zurückhaltung“ bei ihren – bis dahin arg laut vorgetragenen – lnvestitionswünschen gebeten. In einer „vertraulichen Sitzung“ der „Koordinierungskonferenz“ der Behörden kritisierte ein Vertreter der Finanzbehörde am 5. August 1968, dass „so viele kleine Geschäfte“ von solcher „Geheimdiplomatie“ betroffen seien: „Sollen viele Kleine den Großen weichen?“
In der Öffentlichkeit wurde von Lokalpolitikern jedoch behauptet, man werde in den kommenden Jahren die schmuddelige Harburger Innenstadt „sanieren“. Am 21. August 1969 wurde in der „Koordinierungskonferenz“ kritisiert, dass obendrein eine S-Bahn-Trasse im offenen Bau mitten durch die Harburger Innenstadt – zufällig mit Station am Kaufhaus – geschlagen werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren der betroffenen Öffentlichkeit noch nicht einmal erste Überlegungen dieser Art bekannt.
Im Gegenteil: Noch galt gesetzlich der öffentlich einsehbare „Aufbauplan für die Hansestadt“ von 1960. Der sah lediglich eine preisgünstige und ohne Zerstörung der halben Stadt machbare „Elektrifizierung“ der längst vorhandenen S-Bahn-Linie Hamburg-Harburg-Neugraben vor. Die Bundesbahn stimmte denn auch erst am 12. Juni 1970 – gemeinsam mit dem Hamburger Verkehrsverbund (HVV) – den völlig anderen „Planvorbereitungen“ zu. Ihr wurden dafür ein Teil der Kosten und die Verwaltungsarbeit abgenommen.
Die Harburger und Hamburger Beamten hatten dazu beim Bundesbauministerium zunächst 98,2 Millionen Mark ertrickst, vorgeblich für die „Sanierung“ der Harburger Kernstadt: Obwohl dabei im Gegenteil mehr als dreitausend Wohnungen für Bahn- und Straßenbau weggerissen werden sollten und danach höhere Mieten „eine Umschichtung größeren Umfangs erforderlich“ machen würden. So vermerkte es das geheime Protokoll einer Koordinierungssitzung schon am 21. August 1969.
Der vom Hamburger Senat zwischenzeitlich eingesetzte „Sanierungsbeauftragte“ Wolfgang Lüders (SPD) kommentierte am 21. März 1973 ganz ungeniert: „Manche Geschäftsleute sind einfach nicht umsichtig genug, um die wirtschaftliche Umstrukturierung zu überstehen. Und wer heute nicht imstande ist, die üblichen Mietpreise zu bezahlen, der wird das auch in zehn Jahren nicht sein.“
Es kam also ganz wie geplant: Die Stadtbewohner wurden verdrängt, alteingesessene klein- und mittelständische Betriebe und Geschäfte gingen nach und nach pleite. Heute reihen sich neben Hausruinen in der fast ausgestorbenen Innenstadt Handy- und Ein-Euro-Shops aneinander. Diese kaltschnäuzige „Sanierungsplanung“ verstieß allerdings auch gegen das seinerzeit geltende „Städtebauförderungsgesetz“ von 1971, einst ganzer Stolz „sozialdemokratischer Reformpolitik“. Das hatte eine „vorbereitende Untersuchung“ vorgesehen. Sie erst hätte die Notwendigkeit und den Umfang der Sanierung ermitteln müssen – unter anderem durch eine „Befragung der Betroffenen“.
Darauf hatte der SPD-Senat am 11. Juli 1972 lieber mal verzichtet. Seine irrwitzige Begründung: Die „Sanierung“ habe bereits mit dem verheimlichten Ankauf von Grundstücken in den Sechzigerjahren begonnen. Das Rechtsamt der Hamburger Baubehörde hatte den damaligen Bausenator Cäsar Meister (SPD) vor diesen formalen Tricks ausdrücklich gewarnt. Vergeblich. An der Lesart, dass es sich um eine „Sanierung“ handelte, wurde bis heute festgehalten. Tatsächlich wurden für die S-Bahn-Trasse zu Karstadt aber zusätzlich 62 Häuser mit 265 Wohnungen mit mehr als 4.000 Quadratmetern erschwinglichem Raum niedergerissen.
Auf der Abrissnarbe wurde keine Wohnung gebaut, sondern eine „Ringstraße“ mit einem halben Hektar Fläche schloss die klaffende Wunde flickenhaft. Dafür mussten allerdings noch mehr Wohnungen weg. Jahr für Jahr wurde vor und während dieses brachialen Stadtumbaus für eine halbe Milliarde Mark Asphalt auf Harburgs Straßen gegossen: zu deren „Erneuerung“ oder „Erweiterung“. Zeitgleich lagen jahrelang Milliardenbeträge an Hamburger Steuergeld brach in Grundstücken; für weitere hunderte Millionen wurden kolossale „Parkhäuser“ samt „Parkleitsystem“ und Zubringern gebaut – und weitere Wohnhäuser abgerissen.
Fußgänger wurden von den Planern in gigantische Tunnels unter die Erde gebracht. In den ersten Monaten nach Fertigstellung des „Rings“ wurden drei Menschen bei deren trotziger Überquerung getötet. Es gab 57 zum Teil schwere Unfälle. Später wurde es noch irrsinniger: Mit den Jahren wurden zwei der teuren Betonlöcher mit Millionenkosten wieder zugeschüttet und Ampeln für Fußgänger eingerichtet. Ein dritter schluchtartiger Tunnel wird derzeit mit großem Aufwand vorgeblich „attraktiver“ gemacht – wohl für Höhlenmensch und Konifere. Die Kosten für den unterirdischen Bahnhof beim Karstadt-Gebäude wurden dem Bundessteuerzahler aufgedrückt: wegen dessen möglicher Nutzung als Bunker im Atomkriegsfall, mit Unterschlupf für dreitausend S-Bahn-Enthusiasten, die dort monatelang in den abgestellten Zügen leben müssten.
Die Parkhäuser standen über Jahre weitgehend leer oder wurden notdürftig, beispielsweise für ein Möbelgeschäft, umgebaut. Im planierten Harburger Hafen, einem der halb fertigen Ausstellungsstücke der IBA, entstanden neue, ebenfalls kaum genutzte Parkhäuser. Der Bau des S-Bahnhofs „Harburg-Rathaus“ an dem inzwischen fast Pleite gegangenen Karstadt-Haus hatte eine Streichung des ursprünglich geplanten S-Bahnanschlusses in Wilhelmsburg-West zur Folge, einem Wohngebiet mit immerhin dreißigtausend Menschen und vielen Arbeitsplätzen. Die für Pendler unersetzlichen, ehedem bestens ausgelasteten Haltestellen „Unterelbe“, „Tempowerk“ und „Hausbruch“ wurden geschlossen, vorgeblich um die Fahrtzeit attraktiv zu machen. Auf der Strecke zum Hamburger Hauptbahnhof wurde so eine halbe Minute Fahrtzeit „gespart“ – für mindestens 1,6 Milliarden DM direkter Kosten und Millionen mittelbarer.
Gerade wurde der 30. Geburtstag dieser Linie S 3 gefeiert. Sie ist aber weder kundenfreundlicher noch attraktiver für Pendler geworden, die beispielsweise aus Stade nun erstmal über Heimfeld und Karstadt nach Hamburg zuckeln müssen statt beispielsweise durch einen Tunnel unter der Elbe direkt nach Hamburg.
Mit solcher Art Planungsgebaren ohne Bürgerbeteiligung wurden allerdings noch weit mehr städtebauliche Chancen vertan. Die Technische Universität (TU) mit ihrem Stadtplanungsfachbereich sollte ursprünglich am Harburger S- und Fernbahnhof auf einer brachen Fläche angesiedelt werden. Doch die Behördenplaner zerstörten lieber weitere missliebige Wohnviertel in Harburg für die – vorsichtig gesagt – funktionalen Neubauten. Die Mehrzahl der Studenten flieht immer noch abends und in der Semesterpause aus dem leblosen Nest, obwohl sie angeblich in die umliegenden Arbeiterviertel hatten „integriert“ werden sollen.
Die verantwortlichen Beamten und lokalen Politiker von SPD und CDU gaben sich seit den Siebzigern den Anschein, als würden sie nur exekutieren, was „der Markt“ ohnehin erzwingen werde. Dies ist, betrachtet man deren bösartig zu nennende „Stadtentwicklung“ in Harburg, eine schamlose Selbstverleugnung.
Es gibt in Wilhelmsburg und Harburg nur vordergründig eine – von geheimnisvollen Marktkräften wie von Geisterhand oder von der IBA gelenkte – „Gentrifizierung“. Der Stadtteil war vielmehr zuvor von der Verwaltung über Jahrzehnte der industriellen Vergiftung überlassen und gezielt umgebaut worden. Dorthin wurden zeitweise von den städtisch geförderten Wohnungsbaugesellschaften jene Menschen abgeschoben, die im schicken Hamburg nichts anderes zu suchen hatten außer das Glück jener anderen zu besehen, die sie weiterhin mit Hilfe einer willfährigen Verwaltung abdrängen werden.
Von Rainer Jogschies ist dieses Jahr im Nachttischbuch-Verlag erschienen: „21 Hamburg 90 – Wenn eine Stadt zu Tode ‚saniert‘ wird“, 220 S., 19,80 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen