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Historisches Bewusstsein am WinterfeldtplatzMaterial für einen Roman

VON DIRK KNIPPHALS

Emil und die Detektive“ endet hier. Das Hotel, bis zu dem Erich Kästners Kinderhorde den Herrn Grundeis verfolgte, lag am Nollendorfplatz. Und Christopher Isherwood hat hier gewohnt. „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, nehme nur auf, registriere nur, denke nichts“ – diesen Satz aus seinem Roman „Goodbye to Berlin“ (der Vorlage zum Musical „Cabaret“, das das Bild von den Wilden Zwanzigern in Berlin entscheidend mitprägte) schrieb der US-amerikanische Autor in der Nollendorfstraße 17.

Tief gestaffelt ist das Bewusstsein, rund um den Winterfeldtplatz in Schöneberg zu leben. Manchmal erwischt man noch eine Ahnung davon, dass auch so weit zurückreichende Verbindungen bis hin zur Bohemeszene vor dem Zweiten Weltkrieg dazugehören – neben den vierzig Jahren Alternativkultur, die hier in jeden Stein eingedrungen sind, den überall selbstbewusst prangenden Regenbogenzeichen und den alle Schattierungen der Integriertheit ausdifferenziert spiegelnden migrantischen Szenen. Vor dem Gedenkschild für Isherwood an seinem damaligen Wohnhaus überkommt mich jedenfalls immer so ein kleiner Schauer historischen Gewahrwerdens.

„Goodbye to Berlin“ ist einer dieser gelegentlich immer noch nachfunkelnden Romane, mit denen ich mich aus der allzu geordneten westdeutschen Vorortwelt meiner Pubertät herausgeträumt hatte. Und hier hatte Christopher Isherwood also die Vorbilder für seine Figuren gefunden. In diesen Straßen hat man also schon vor hundert Jahren mit Lebensentwürfen experimentiert!

In aktuellen Romanen spielt die Gegend rund um Winterfeldt- und Nollendorfplatz aber leider kaum eine Rolle. Es gibt Katja Lange-Müllers schönen Roman „Böse Schafe“, in dem beschreibt sie ein noch ganz studentisch verquatschtes „Slumberland“ aus den tiefsten Achtzigern (das bei ihr „Malibu“ heißt). In Ulrich Peltzers Roman „Alle oder keiner“ taucht der Winterfeldtplatz dann schon als Einkaufsparadies für verbürgerlichte Praktizierer des guten Lebens auf. Das war es auch schon. Die meisten aktuellen Berlinromane handeln stattdessen von Identitätsproblemen in Mitte und Prenzlauer Berg.

Nun hat sich ja auch der Autorennachwuchs eine Zeitlang automatisch in diesen Vierteln angesiedelt. Aber ich glaube nicht, das diese Themensetzung nur damit etwas zu tun hat. Sondern es geht hier auch um die allzu schlichte Dramaturgie, die hintergründig nicht nur aktuelle Romane bestimmt, sondern auch viele Alltagserzählungen – der Dramaturgie von großen Erwartungen, Aufbruch und notwendig darauf folgenden Verfall.

Von der Reagan-Demo und den Straßenschlachten um besetzte Häuser (Aufbruch) bis zur Beginn der Verbürgerlichung (Verfall) – nach dieser Dramaturgie wäre in dieser Gegend wirklich nur die Zeit von den ganz frühen Achtzigern bis zu den frühen Neunzigern interessant. Wer aber die dreißig Jahre von 1980 bis heute rund um den Winterfeldtplatz überblicken will, müsste anders vorgehen, vielleicht sogar einen klassischen Entwicklungsroman schreiben: darüber, wie sich die Lebensentwürfe allmählich individualisieren und privatisieren; wie manche Figuren unter die Räder kommen, es anderen aber gelingt, sich ein einigermaßen funktionierendes Leben zurechtzubasteln; wie zeitgleich das ganze Viertel heller und bunter wird, was aber auch wiederum seine Fallen (Gentrifizierung!) hat …

Gerade sieht es zwar nicht danach aus, aber vielleicht schreibt ja mal einer so einen Roman (oder auch so eine Fernsehserie). Eben kein 68er- oder Post-68er-Bashing oder eine 68er- oder Post-68er-Verteidigung mehr, sondern ein Bildungsroman darüber, wie wir wurden, was wir sind. Am Winterfeldtplatz gäbe es dafür Material ohne Ende! Auf Christopher Isherwood kann man sich dabei dann aber nicht berufen. Man muss mehr sein als eine offene Kamera, nämlich auch ein wandelndes Archiv und vor allem ein Menschenkenner, um so ein Buch hinzukriegen. Ich würde es lesen.

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