: Gesundheitsökonomen versus Pharmalobby
Es ist ein Präzedenzfall: Heute wird entschieden, ob künstliches Insulin weiter Kassenleistung bleibt. Diabetiker und Pharmafirmen beschweren sich, Gesundheitsökonomen kritisieren, dass die Präparate teurer, aber nicht besser sind
BERLIN taz ■ Eine dramatische Entwicklung sagt Manfred Wölfert voraus. Der Vorsitzende des Deutschen Diabetikerbundes denkt in gruseligen Szenarien, wenn es um die heutige Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses geht. Auch den Arzneimittelherstellern stehen die Haare zu Berge. Denn das gemeinsame Gremium von Kliniken, Kassen und Ärzten entscheidet darüber, ob künstliche Insulinpräparate, so genannte Insulinanaloga, wie bisher Kassenleistung bleiben. Patienten, die an Altersdiabetes erkranken, müssten das unmittelbar vor den Mahlzeiten zu spritzende Mittel sonst künftig selbst bezahlen – oder sich mit normalem Insulin behelfen. Das wirkt genauso, ist aber etwa ein Drittel billiger.
Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses könnte den Pharmafirmen, die mit Insulinanaloga seit zehn Jahren kräftige Umsätze erzielen, eine Niederlage bescheren und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen wichtigen Sieg. Jenes Institut, dem im Zuge der Gesundheitsreform eine größere Rolle bei der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln zugedacht ist.
Bei ihrer Entscheidung werden sich die Ausschussmitglieder vorrangig auf den Bericht des IQWiG stützen, den dieses im Februar vorlegte. Dass künstliches Insulin wirkt, steht außer Frage. Doch die Wissenschaftler haben in sieben internationalen Studien Hinweise gesucht, ob es auch einen langfristigen Nutzen hat, ob also bei langjährigen Diabetikern nicht so oft Beine amputiert oder Nieren ersetzt werden müssen. Das knappe Fazit des 165-seitigen Papiers: „Es existieren keine überzeugenden Belege für eine Überlegenheit kurz wirksamer Insulinanaloga …“ Das heißt, die IQWiG-Mitarbeiter können keinen Zusatznutzen erkennen, der den höheren Preis rechtfertigen würde. Kämen die Interessenvertreter und die Unparteiischen im Bundesausschuss zum selben Ergebnis, wäre dies das erste Mal, dass auf einen Bericht des IQWiG eine so prompte Änderung der Verschreibungspraxis erfolgte.
„Einen Präzedenzfall“ nennt Jochen Stemmler vom Verband forschender Arzneimittelhersteller die Entscheidung und kritisiert die Empfehlung des IQWiG. Bereits seit 2003 dürfen die Mitarbeiter um IQWiG Direktor Peter Sawicki Studien über den Nutzen neuer Medikamente auswerten, aber daraus keine Schlüsse bezüglich ihres Preises ziehen. Damit blieb das Institut zahnlos: Ist ein neues Medikament erst einmal behördlich zugelassen, müssen die Kassen es bezahlen. Sehr zur Freude der Pharmaindustrie, die deshalb versucht, erprobte Wirkstoffe als Neuheiten aufzumotzen und mit Patentschutz versehen teuer zu verkaufen.
Solche Analogpräparate machen etwa die Hälfte aller Mittel aus, die jährlich neu auf den Markt kommen werden, schätzt der Gesundheitsökonom Gerd Glaeske. „Die Entscheidung des Bundesausschusses könnte bewirken, dass Firmen nicht mehr unnötig viel Geld verdienen“, meint der Sachverständige für die Entwicklung im Gesundheitswesen. Allein die Insulinanaloga bescherten den Firmen pro Jahr zwischen 300 und 400 Millionen Euro Umsatz. Wollten sie weiterhin Geld mit diesen Mitteln verdienen, müssten sie die Preise drastisch senken. Eine Gefahr für die Patienten kann Glaeske nicht erkennen: „Diabetikern wird ja keine wirksame Therapie vorenthalten.“ Er rät den Patienten, sich lieber bei den Pharmafirmen zu beschweren. Diese hätten immerhin zehn Jahre Zeit gehabt, Studien vorzulegen, die einen Zusatznutzen belegen. Doch das sei nicht geschehen. Und die nächste Schlappe wartet schon. Gerade untersucht das IQWiG langfristig wirkende Insulinanaloga. Der Bericht erscheint im Herbst.
ANNA LEHMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen