Normalzeit: HELMUT HÖGE über soziale Verwerfungen
„Diese ständige Umverteilung von den Armen zu den Reichen, das bedeutet Krieg!“ (Herbert Wehner)
Der Heinrichplatz ist das Zentrum von Kreuzberg 36. Auf einem seiner Viertelinseln stand 100 Jahre lang ein altes Berliner Pissoir – aus Gusseisen. Ein paar kleine Teile waren zerbrochen, die Farbe blätterte ab, es war voll mit Graffitis. Eines Tages war es verschwunden. Aus dem Bezirksamt hieß es, dass es repariert werden sollte. Stattdessen legte dort jedoch das Gartenbauamt ein Blumenbeet an. Dieses wurde ein paar Jahre später von der ins Rathaus eingezogenen KPD/RZ mit einer Sitzbank versehen, die auch gut angenommen wurde.
Zum Pissen musste man/frau jedoch bis zum Mariannenplatz gehen, wo am Parkrand ein 80er-Jahre-Pissoir steht, das allerdings oft abgeschlossen ist. Es ersetzte dort ein Altberliner Pissoir, das einst wie jenes auf dem Heinrichplatz aussah. Während des Krieges hatte ein Arbeiter aus der Muskauer Straße dort an die Pinkelwand geschrieben: „Hitler, das Schwein, gehört ermordet!“ Er war denunziert und dann hingerichtet worden.
Das vom Bezirksamt demontierte und dann eingemottete Pissoir vom Heinrichplatz ist kürzlich wieder aufgetaucht: am Rüdesheimer Platz. Dort ist nicht nur der U-Bahnhof unten komplett geschmückt mit goldenen Weintrauben, Rebstöcken, Rebläusen und Weinblättern aus Keramik und Mosaiksteinen. Oben gibt es auch einen Park – den „Rüdi“ – mit einem Wasserfall und einem Weinkiosk, „Rheingauer Weinbrunnen“ genannt.
In diesem Kiosk wird seit nunmehr 40 Jahren Wein aus der Rüdesheimer Umgebung ausgeschenkt. Die meisten Gäste – einige hundert an guten Tagen – kommen aus der Nachbarschaft. Es ist ein etwas angestrengtes Mittelschichtenpublikum. Eine Sekretärin, die sich mit einem Kinderklamottenladen und der AEG-Abfindung ihres Mannes selbstständig machte; eine Hausfrau, die ihr Hobby zum Beruf machte und einen Spielzeugladen eröffnete; eine Ex-Kitaleiterin, die mit einem Zahnarzt verheiratet war, und so weiter. Der Weinkiosk hat nur im Sommer auf, und dann standen da auch zwei Dixiklos. Weil diese oft stanken, hatte das Bezirksamt Wilmersdorf heuer schließlich ein Einsehen: Es besorgte sich das Altberliner Pissoir aus Kreuzberg, ließ es aufmöbeln und stellte es an den Rand des Rüdesheimer Parks – anstelle der Dixiklos.
Von ungeheuerer Umverteilungsmentalität zeugt auch die Instandsetzung der Kaskade am Lietzensee, die jahrelang ähnlich wie die Pamukale im Görlitzer Park vor sich hinbröselte. Der eine wie der andere Bezirk hatten kein Geld, um sie zu renovieren – obwohl beide früher einmal wahnsinnig stolz auf die Wasserspiele waren. Charlottenburg konnte jetzt jedoch die Stiftung Denkmalschutz gewinnen, die Kaskaden für 180.000 Euro wieder instand zu setzen. Im Kreuzberger Park bröselt die Pamukale immer weiter vor sich hin.
Etwas anders ist die Problematik im Neuköllner Körnerpark gelagert: Dort ist alles prima in Schuss – die Blumen blühen und das Wasser sprudelt, aber alle zehn Minuten donnert ein Flugzeug über den Park – zum Flughafen Tempelhof. Eigentlich sollte dieser längst geschlossen sein, aber weil die Reichen und Schönen ihn als „City-Airport“ entdeckt haben, starten und landen dort weiterhin Jets. Während der WM waren es so viele, dass die Standplätze auf dem Flughafen nicht mehr ausreichten. Logisch, dass es nun eine anschwellende Lobby gibt, die sich für den Erhalt des „City-Airports“ stark macht – über den Schließungstermin im März kommenden Jahres hinaus. Der schöne Körnerpark in der Einflugschneise ist darüber fast zu einer No-go-Area geworden.
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