: Darf der Staat bestimmen, wie Arbeitslose leben?JA
ARMUT Hartz-IV-Empfänger bekommen statt Geld für Tabak oder Tiernahrung Gutscheine für den Musikunterricht ihrer Kinder
Die sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante LeserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.
Karl Brenke, 57, ist Experte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
Die derzeitige Debatte lässt den Eindruck entstehen, dass die Politik den Leistungsempfängern vorschreiben würde, wie sie im Detail zu leben hätten. Festgelegt ist aber über die Regelsätze nur die Höhe der Ausgaben. Nur das schreibt der Staat vor – und das ist unstrittig. Sehr akribisch hat die Bundesregierung alle möglichen Ausgabepositionen ermittelt und bewertet, um auf einen Wert zu kommen, der das „sozio-kulturelle Existenzminimum“ sichert und eine gewisse Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Die Medien hatten davor über zahlreiche Einzelfälle berichtet, bei denen aufgrund sehr spezieller Lebensumstände Ausgaben anfallen, die durch Hartz IV nicht abgedeckt seien. Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht sahen den notwendigen Lebensstandard mit den Sozialleistungen nicht abgedeckt.Und das Gericht hatte eine detaillierte Berechnung gefordert. Die Absurdität der Debatte zeigt sich daran, dass niemand so recht weiß, was unter „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ zu verstehen ist. Ohne Zweifel gehört die tägliche Ernährung oder der Schulbedarf der Kinder dazu. Ein Teil der Leistungen ist aber frei verfügbar. Für den einen Leistungsbezieher mag der – meist subventionierte – Besuch einer Kulturveranstaltung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dazu gehören, für andere ist es ein Handy, das sie dem Kauf eines Buches vorziehen.
Bernd Siggelkow, 46, ist Pastor und hat das Kinder- und Jugendwerk Arche gegründet
Bei den Leistungen für Kinder müssen wir sicherstellen, dass diese auch am Ende bei ihnen landen. Ich befürchte, dass, wenn diese in Form von Geld in die Familien gegeben werden, dann damit andere Löcher im Haushalt gestopft werden. Deutschland hat ein massives Bildungsproblem, wir geben eine Milliarde Euro für Nachhilfe aus, nur wie sollen Langzeitarbeitslose Nachhilfe, Sportunterricht oder Schulessen bezahlen? Viele Kinder kommen zur Arche, weil sie keine Möglichkeit haben, Musikunterricht zu bekommen oder in den Sportverein zu gehen. Damit mehr Geld bei den Kindern ankommt, muss der Staat mehr in das Bildungssystem investieren. Das kann mit einem kostenlosen Schulessen, aber auch mit einer Bildungs-Chipkarte geregelt werden. Allerdings dürfen so nicht Kinder aus Familien, die Hartz IV bekommen, stigmatisiert werden. Stattdessen müssen alle Kinder Chipkarten bekommen – nur würden sie unterschiedlich aufgeladen werden. Ich würde die Karte beispielsweise selbst aufladen, an anderer Stelle müsste es das Jobcenter machen. Gutscheine sollte es nicht geben – die haben den Beigeschmack von Almosen.
Günther Holzhofer, 57, ist Techniker und hat das Thema auf taz.de kommentiert
Der Staat hat eben keinen Einfluss darauf, wohin das Geld geht. Deshalb sind die Mittel im Umfang auf das begrenzt, was notwendig ist. Es ist kein Wunschkonzert, aber wer Hilfe braucht, bekommt diese. Punkt. Er entscheidet, was er damit macht. Respekt muss gegenseitig sein, von denen, die haben und etwas davon abgeben, aber auch umgekehrt von denen, die nehmen, gegenüber denen, die von ihrer Arbeit Lohn was hergeben. Und ich weiß, wovon ich rede: Vor zwölf Jahren war ich ganz unten, hatte eine Viertelmillion Schulden. Eine Zeit, in der es noch keinen Privatkonkurs gab. Also habe ich die Pobacken zusammengekniffen und 300 Stunden jeden Monat im Außendienst gerackert; hatte nur alle zwei Wochen sonntags frei. Ich habe mich wieder aufgerappelt und alles zurückgezahlt. Heute verdiene ich ganz gut und gebe auch gerne ab – für Menschen, die es wirklich brauchen. Nicht aber für die, die das Sozialsystem missbrauchen. Der Auffangmechanismus des Sozialstaats soll eine erste Hilfe sein. Es kann aber nicht „la dolce vita“ auf Dauer sein. Eigeninitiative und die Bereitschaft zur Leistung sind gefragt, verbindlich auftreten und durchhalten, auch wenn es nicht leicht fällt. Wer nicht will, dass der Staat ihm vorschreibt, was er zu tun hat und wie er leben darf, der muss sein Leben eben selbst in die Hand nehmen.
NEIN
Katja Kipping, 32, ist Linke-Politikerin und leitet den Sozialausschuss im Bundestag
Es kommt niemand auf die Idee, den Bankern die Boni zu kürzen, nur weil sie Champagner trinken – oder den Abgeordneten die Diäten, wenn sie einen Whiskey-Schwenker in Schreibtischnähe haben. Im alten Hartz-IV-Satz sind für Nahrung, Getränke und Tabakwaren täglich 4,42 Euro vorgesehen. Davon muss alles bestritten werden: Essen, Trinken, Rauchen. Ein solches Budget lässt keine Suchtexzesse zu und eine entsprechende Einkürzung würde nichts weiter bedeuten als eine Kürzung der Lebensmittelration für alle Hartz-IV-Empfänger. So will es Schwarz-Gelb. Die Zigaretten-Debatte produziert vor allem Nebelschwaden, die davon ablenken, dass auch Blumen und Urlaube im Regelsatz nicht vorgesehen sind. Außerdem wird davon abgelenkt, dass bei der Berechnung Zirkelschlüsse auftreten. Es werden die Armen benutzt, um die Sätze zu berechnen, ebenso wie Aufstocker und verdeckt Arme.
Guido Grüner, 51, vom Arbeitslosenverein ALSO organisiert eine Demo zum Thema
Das armselige Leistungsniveau von Hartz IV bestimmt den Lebensstil: Ich bin ‚Schnäppchenjäger‘, auf Billigstprodukte angewiesen. Dem Leben von Millionen Menschen werden so engste Grenzen gesetzt. Sie werden auf Waren verwiesen, die nur unter Raubbau an Mensch und Natur geliefert werden können. Fairen Handel kann man sich davon nicht leisten. Der Hartz-IV-Regelsatz sieht für die Ernährung eines Erwachsenen 3,94 Euro vor – für Kinder und Jugendliche noch weniger. Doch davon hat niemand die Freiheit, fair, regional und biologisch produzierte Waren zu kaufen. Mit den Entscheidungen über den Hartz-IV-Satz könnte das verändert werden. Erwerbslose fordern die Erhöhung des Satzes um 80 Euro, damit Geld für bessere Ernährung da ist. Das würde den Zwang zu Billigstprodukten mildern. Allen Menschen müssen Spielräume eröffnet werden, statt sie in Armutsökonomien abzudrängen.
Manuela Schwesig, 36, ist Sozialministerin (SPD) in Mecklenburg-Vorpommern
Der Staat muss gute Rahmenbedingungen für die Menschen schaffen und dafür sorgen, dass für alle ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert ist. Dass die Regierung eine Diskussion über den Alkohol- und Tabakkonsum von Langzeitarbeitslosen vom Zaun gebrochen hat, ist empörend. Es ist eine schlimme Diffamierung, wenn Union und FDP suggerieren, dass alle Hartz-IV-Empfänger saufen, faul sind und ihre Kinder nicht erziehen können. Es kann richtig sein, auch gesundheitspolitische Aspekte in den Sätzen zu berücksichtigen. Dann sollte aber das Geld, das für Alkohol und Tabak gedacht war, für die Gesundheitsvorsorge fließen. Kindern von alkoholkranken Eltern ist mit Hetze über ihre Eltern nicht geholfen. Die allermeisten Arbeitslosen wünschen sich, aus eigener Kraft wieder unabhängig von Transferleistungen zu werden. Doch Anreize zum Arbeiten schafft man nicht, indem man Sätze nach Kassenlage verändert. Wir brauchen gute Löhne und deshalb endlich den flächendeckenden Mindestlohn.
Andre Berthy, 43, ist Islamwissenschaftler und hat das Thema auf taz.de kommentiert
Der Staat soll ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. Und dazu zahlen alle Steuern und Beiträge. Das Geld stammt von den Menschen, die lange gearbeitet haben – das verpflichtet. Ich denke, das Problem liegt woanders: Die Entmündigung von Arbeitslosen durch sinnlose und hart an der Grenze formulierte Bestimmungen und Regelungen fördert den Verbleib in diesem System. Wer drinnen landet, hat abgeschlossen: Er kann kein Studium aufnehmen, Weiterbildung, Umschulung oder Qualifizierung wird nicht genehmigt. Im Kern macht Hartz IV Arme arm, Schwache schwach und Nichtqualifizierte werden nicht weitergebildet.
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