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KOMMENTAR VON CHRISTIAN RATH ÜBER DIE NEUEN SPIELREGELN IM PARLAMENTHier ist eben nicht Weißrussland

Bei den Redezeiten hätte die Regierung ruhig großzügiger sein können

Deutschland ist nicht Weißrussland. Bei uns wird die Opposition nicht verfolgt, sondern gepflegt. Im globalen Maßstab ist der deutsche Kompromiss zur Sicherung der Oppositionsrechte geradezu mustergültig. Obwohl Grüne und Linke in Zeiten der übermächtigen Großen Koalition zusammen nur 20 Prozent der Parlamentssitze haben, können sie Untersuchungsausschüsse, Anhörungen und Enquetekommissionen durchsetzen. Bisher waren hierfür 25 Prozent der Sitze erforderlich.

Selbst im deutschen Maßstab ist diese Einigung ein Fortschritt. Bei früheren Großen Koalitionen ging die Mehrheit nicht auf die Minderheit zu. Besonders drastisch war dies von 1966 bis 1969. Damals hatte die FDP als einzige Oppositionsfraktion gerade mal 6 Prozent der Sitze. Versuche, die Opposition zu stärken, gab es nicht. Die Anerkennung der Opposition als zentraler Akteur der Demokratie hat sich erst langsam entwickelt.

Die nun gefundene Lösung ist auch praktikabel. Ursprünglich wollte die Große Koalition der Minderheit nur dann einen Untersuchungsausschuss gewähren, wenn jeder einzelne der 127 Oppositionsabgeordneten den Antrag unterzeichnet. Krankheit war nicht vorgesehen. Einzelne Querulanten hätten die Opposition lahmlegen oder erpressen können. Nun reichen 120 Abgeordnete aus, das ist fair und vernünftig.

Der Opposition fehlt nur noch das Recht, jedes beliebige Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen. Für diese Normenkontrolle sind weiter 25 Prozent der Abgeordneten erforderlich. Das ist aber verschmerzbar, denn viele Wege führen nach Karlsruhe. So können etwa auch Bürger klagen, oder Fachgerichte können einen Fall vorlegen.

Einzig bei den Redezeiten ist die Mehrheit etwas knausrig. Hier hätte die Große Koalition mehr Größe, also Großmut, zeigen können. Wichtigster Zweck der Parlamentsdebatten ist es nicht, das Wahlergebnis proportional zu spiegeln, sondern in Rede und Gegenrede politische Projekte zu diskutieren. Im zweiten Teil jeder Debatte redet jetzt aber nur noch die Regierungsmehrheit. Wie öde.

Doch die Geschäftsordnung des Bundestags ist flexibel. Abgeordnete dürfen Zwischenfragen stellen und mit Zwischenrufen auf Redebeiträge reagieren. Niemand hindert die Opposition daran, von diesem Recht offensiv Gebrauch zu machen.

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